Ein Mann spinnt - im Auftrag seiner Firma

Helmut Volkmann genießt das Privileg, als freigestellter Forschungsdirektor hauptberuflich über die Zukunft nachzudenken

Von Michael Knopf

Die Stadt des Wissens hat das Format einer großen Modelleisenbahnanlage und sieht auch so aus; nur die Schienen fehlen, leider. Sehr sorgfältig sind die Miniaturhäuser konstruiert, an ihren Fassaden oder als Transparent auf den Dächern prngen Werbesprüche, die allerdings keine Produkte anpreisen, sondern Ideen, Grundhaltungen, wichtige Vorhaben, was ein bißchen an die verblichene DDR erinnert: Vorwärt in die Zukunft! Man kann sich nun an den Stadtrand auf einen Stuhl setzen, Augen in Häuserhöhe, und eine der breiten Straßen entlangblicken - wo sie aufhört, drüben am anderen Ende der Stadt, sitzt Helmut Volkamann und schaut herüber, ein zu großer Kopf zwischen den kleinen Gebäuden. Es ist, als wäre die Welt geschrumpft, es ist auch, als wären wir über Nacht enorm gewachsen, es ist auf jeden Fall leicht verrückt und sehr schön, denn es ist wie im Spielzeugland, wo die Freiheit grenzenlos ist. Helmut Volkmann spinnt, das muß man wissen; und man darf es auch sagen, denn er spinnt im Auftrag des ernsthaften Unternehmens Siemens. Profitabel oder nicht profitable, das ist hier zunächst mal nicht die Frage.

Menschen wie Volkmann werden gerne als "Querdenker" bezeichnet, was insofern Blödsinn ist, als wirkliches Denken zwangsläufig immer "quer" liegt zu den gängigen schmalspurigen Geistesübungen, die zwischen Problem und Lösung nur den kürzesten Weg sehen. Volkmann also denkt, und er schweift ab, spielt, geht nicht von A direkt nach B, sondern zieht zunächstüber C und D - wobei ihm der Umweg die Erkenntnis einbringen kann, das A,B,C und D durchaus zusammenhängen. Was das freilich langfristig bedeutet, läßt sich möglicherweise erst nach einem Ausflug nach Z sagen ... Controllern muß das ein Greuel sein, weil sich nicht jede Minute Arbeitszeit in Mark übersetzen läßt; im zeitgemäß schlanken bis magersüchtigen, produktivitätsblinden Unternehmen ist Volkmann ein Fettauge. Wie auch immer seine Vrogesetzten dieses Wirken bewerten mögen - daß sie ihn spinnen lassen, spricht für sie und beschert damit zunächst einen Imagegewinn.

Auch Helmut Volkmann hat klein und sehr normal angefangen, als 17jähriger kaufmännischer Lehrling vor 43 Jahren: später studierte er nebenbei und befaßte sich mit Datenverarbeitung, leitete dann die Abteilung "Software-Engineering". Es kam ihm dann irgendwann das Wort "Informationsgesellschaft" unter, und er dachte wohl, was er heute so ausdrückt: "Informationsgesellschaft muß mehr sein als Industriegesellschaft plus Informationstechnik." Die Technik haben wir ja, zum Beispiel das Internet, welches auch das Problem schön bunt vor Augen führt: Es gibt sehr viele Informationen, die vor allem darüber informieren, daß es sehr viele Informationen gibt. Wozu aber? Volkmann verlor sich sozusagen im Denken und war damit bald auch für eine unmittelbar effektive Arbeit verloren - man ließ ihn los und stellte ihn frei, weshalb er nun das beneidenswerte Privileg genießt, hauptberuflich über die Zukunft nachdenken zu dürfen, als gutbezahlter Forschungsdirektor.

Das momentan sichtbare Zwischenergebnis ist nicht so, daß man es auf Anhieb verstehen könnte - jedenfalls dann nicht, wenn man allein auf Volkmanns Beiträge in Fachzeitschriften angewiesen ist. Es lohnt sich aber, ihn in seinem Arbeitszimmer in Neuperlach zu besuchen, das nicht Arbeitzimmer heißt, sondern "Atelier für Innovatoren", das auch nicht wie ein Büro aussieht, sondern wie eine Kreuzung aus Multimedia-Schaltzentrale, Messestand und postmodernem Wohnzimmer. Neun Computermonitore in einem Metallgestell, Dieaprojektoren, das Modell einer "Wissenshalle", Leuchtbilder, dazwischen bunte Sessel und Helmut Volkmann, der nicht viel verständlicher redet, als erschreibt. Es gibt in diesem Atelier auch Gemälde wie jenes. Das den Titel "Aufbruch zum Kontinent der Lösungen" trägt - ein zur Satire einladender Titel, gewiß, zumal da das Bild darunter für Kinder gemalt zu sein scheint. Ein nachtblaues Meer, darin Inseln, darauf Lauchttürme, dazu Raketen, Paddelboote, aufgeblasene Bezeichnungen wie "Hafen der Erkenntnis" oder "Massiv der Wagnis-Ideen". Alles Geschwurbel, auf den ersten Blick.

Der zweite enthüllt den Sinn; und es zeigt sich, daß das Schaubild nicht versehentlich kindgerecht geraten ist. Es erzählt zu den Bildern spielerisch eine Geschichte, die Geschichte von den Möglichkeiten, aus dem problembeladenen "Babylon" in eine bessere Zukunft zu kommen. Auf diesem Weg liegen, unter anderem, die "Städte des Wissens" - Ort, sehr simpel ausgedrückt, an denen das Wissen der Informationsgesellschaft nicht in den Köpfen isoliert vor sich hinarbeitender Experten versandet, sondern sozusagen in der Luft liegt, frei verwendbar. In der Stadt des Wissens, das ist Volkmanns Vision, gibt es einerseits aufgabenbezogene "Viertel", andererseits aber auch ein "Zentrum", in dem sich die "Botschafter" aus den Vierteln treffen. Wer ein Problem zu lösen hat in dieser Wissensstadt, stößt beim Bummeln - wie in einer Fußgängerzone - auch auf nicht Gesuchtes, macht Zufallsfunde, sieht die Dinge aus einer anderen Perspektive. Untereinander sind Wissensstädte im Netzwerk verbunden und tauschen, analog zur industriellen Arbeitsweise, außer Rohstoffen auch Fertigprodukte aus.

Zum einem ist diese Stadt eine Metapher im Sinne Volkmanns, der die Wissenschaft von der Höhe der Abstraktion wieder herunterholen möchte auf die archaische Ebene des Bildhaften - wenn in voralphabetischen Zeiten komplexe Sachverhalte mit Hilfe von Bildern vermittelt wurden, warum sollte die Informationsgesellschaft ihr Wissen nicht darstellen können wie im Theater? Könnte intuitives Verstehen über Bilder und Phantasie, wie es L´Kindern zu eigen ist, nicht eine populäre Alternative sein zur hermetischen Spezialistensprache? Zum anderen ist die Stadt baubar, und sei es nur in Form einer Halle, die Raum bietet für "vernetztes" Denken, für den freien Austausch wissender und solcher, die es werden wollen.

Zum dritten kann es ein Geschäft werden, worin wohl der tiefere Grund dafür liegt, daß Volkmann bei Siemens schienenlose Modelleisenbahnanlagen bauen und "Xenia" nennen darf, "die Gastfreundliche". Das spielerische Vergnügen um den Tisch von einem Stadtrand des Modells "Xenia" zumanderen zu wandern und den Wechsel der Sichtweise zu bewundern, wäre womöglich doch kein ganzes Gehalt wert - wenn Volkmann nicht auch sehr verständliche Sätze im Controller-Deutsch zu sprechen verstünde: "Probleme von heute sind Geschäftsmöglichkeiten von morgen". Es kann ja sein, daß Siemens tatsächlich mit "Xenia" auf der Weltausstellung Expo 2000 vertreten sein wird; es kann außerdem sein, daß die Produkte der Dienstleistungsgesellschaft ("Wir massieren uns alle gegenseitig", sagt Volkmann) nicht exportfähig sind, im Gegensatz zu den Produkten der Informationsgesellschaft. Sollten dann die industriellen Arbeitsplätze weiterhin verschwinden, weil sie in Indonesien billiger sind - womöglich fände das alte Europa doch eine neue Aufgabe, die Verarbeitung von Wissen zum Beispiel. Es könnte sich in diesem Fall als durchaus nützlich erweisen, daß Helmut Volkmann jahrelang unbehelligt spinnen durfte.

Süddeutsche Zeitung 16/17. November 1996



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