ERGEBNIS VON ZEHN JAHREN DENKARBEIT:Helmut Volkmann mit dem Modell seiner Zukunftsstadt "Xenia" |
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Nur noch denken. Visionen entwerfen, die Gedanken fliegen lassen
und beizeiten wieder einfangen. Sich ins Denkzeug legen, bis der
Kopf kopfsteht. Tag für Tag, bei stattlicher Entlohgnung.
Welch ein Job.
Den Job macht Helmut Volkmann, 60 Jahre alt. Dem Titel nach ist
er Direktor in der Zentralabteilung Forschung und Entwicklung
des größten Elektronikkonzerns Europas. Aber eigentlich
ist er nichts als Vordenker. In der Siemens-Zentrale in München
Neuperlach, Gebäude 53, siebter Stock, räsoniert Volkmann
über Gott und die Welt und ihren Wandel. Freigestellt für
die Ideenproduktion, in keiner Not, Ergebnisse zu präsentieren,
und schon gar nicht bestimmte. Welch ein Job.
Reiseführer in bunteste Gedankenwelten
Natürlich präsentiert Volkmann beizeiten Ergebnisse
seines Vordenkens, wär ja noch schöner. Sie sind, nach
zehn Jahren Denkarbeit, Pappmache geworden. "Xenia"
(griechisch: die Gastfreundliche) heißt die Stadt, die er
in Räumen seiner Abteilung en miniature hat modellieren lassen.
Und "Xenia" heißt Volkmann s Beitrag zu einer
besseren Welt, die sich an die Lösung ihrer Probleme ein
bißchen herangetraut hat.
Noch traut sie sich nicht richtig. Seine Besucher in München-Neuperlach
(und es kommen immer mehr) entführt Volkmann deshalb in seine
bunte Gedankenwelt, wo des Zauderns und des Zagens nicht mehr
ist. Kommt, steigt endlich zu, beschwört Reiseführer
Volkmann mit jedem Satz seine Zuhörer: Wollt nur! Ein besseres
Survival-Training für die Menschheit kann es gar nicht geben.
Volkmann, im Auftreten eher Manager alten Stils denn Missionar
neuer Glaubenslehren hat schon bei Hausfrauengruppen, Arbeitslosenvereinigungen
und Akademikerversammlungen angemahnt. An diesem Tag sind es Mitarbeiter
der Siemens-Nixdorf AG in Fortbildung, denen er mit sanfter, aber
nachdrücklicher Rede Lauchten in die Augen zaubert. Die Computer-Fachleute
nicken verständig, wenn Volkmann seinen Lieblingssatz sagt:
"Wir sind Weltmeister im Erkennen dessen, was alles nicht
geht". Und lachen befreit auf, wenn er in dieses sein Urteil
das Unternehmensmanagemant im allgemeinen und die Führungsspitze
der Firma, die ihn bezahlt, im besonderen einschließt: Es
ist die gezielte Provokation, verkrustete Denkstrukturen auch
und gerade im Wirtschaftsleben aufzubrechen, die ihn so faszinierend
macht.
Aber wohin geht die Reise? Wo ist "Xenia"? Da muß
man ihrem geistigen Architekten schon schwer hinterherdenken.
Er hat ja selbst lange genung über "Xenia" gegrübelt
und dabei innere Zeitreisen mit von ihm erfundenen Beigleitern
oder literarischen Vorbildern unternommen: zum Beispiel Kai aus
der Kiste, Ingo, dem altem Ingenieur, oder uach Tom Sawyer. Bis
zum Urknall haben sie es geschafft und wieder zurück in die
Zukunft, die Kindsköpfe. Daß Volkmann bei seinen gedankenflügen
dem chinesischen I Ging und Karl R. Popper ebenso begegnete wie
Hegel und der Chaostheorie, wollte auch noch eingearbeitet sein.
Und so ist seine "Xenia"-Idee eigentlich nicht so richtig
greifbar, ein "work in progress", bei dem sich die Perspektiven
immer wieder neu verschieben.
Ziel einer solchen "Wissensstadt" soll es sein, "schneller
und gezielter Lösungen für komplizierte vernetzte Probleme
zu finden, bei der eine Vielzahl von Menschen zusammenarbeiten
müssen", zu den Themen Verkehr, Gesundheit oder Energie
beispielsweise.
"Xenia" ist dafür multimediales Experimentierstudio
und Schaufenster der Zukunft zugleich - und Einwohner wie Besucher
sind eingeladen, mitzuexperimentieren und über ganze "Medienensembles"
Zugriff auf die immer dichter werdenden Datennetze zu nehmen.
"Xenia", das ist die griechische Polis mit einer computertechnisch
gesprochen, totalen Benutzeroberfläche.
Uff. Können wir's nicht ein bißchen konkreter haben?
Gar nicht so einfach Volkmanns "Xenia"-Stadt aus Pappe
mit all den Bürgerhäusern, Residenzen und Bürogebäuden
ist, weil dem überkommenen Bild der Stadt zu ähnlich,
noch nicht allzuviel Anschauung abzutrotzen. Die schönen
Schaubilder, die Volkmann aus irgendwelchen Mappen zieht wie Kaninchen
aus dem Ärmel, helfen auch nicht viel weiter. Sie gliedern
seine vernetzte Musterstadt in höchst interpretationsbedürftige
"Viertel der Kontakte und Kooperationen", "Viertel
der Wertschöpfung" oder auch "Viertel der Führung",
und noch in Volkmanns Aufsätzen ist viel von "Applikationsszenarios",
"Problemlösungsgeschäften" und "Wertschöpfungssystematik"
die Rede. Das hat einen Abstraktionsgrad, der das "Xenia"
versprochene kreative Flair nicht einmal erahnen läßt.
Das verschleiert die zu befördernde "Innovationskultur"
dieser "Knowledge-City" mit all ihren "Kontext"
und "Sinnzusammenhang" stiftenden Strukturen mehr, als
es sie erklärt. Und das entlarvt Helmut Volkmann, der den
Propheten einer wagemutiger gewordenen Welt mit dem unschuldigen
Grinsen eines weise gewordenen Hape Kerkeling spielt, als Scharlatan
- oder aber als Genie.
Politiker geben sich die Klinke in die Hand
Die Politik setzt auf zweiteres. Parlamentspräsidentin Rita
Süßmuth hat "Xenia" schon besichtigt, die
Herren aus den Staatskanzleien (Nordrhein-Westphalen, Bayern,
Schleswig-Holstein) geben sich bei Volkmann die Klinke in die
Hand, und die SPD- Landesvorsitzende Renate Schmidt ist im Goldenen
Buch der Stadt"Xenia" mit dem mutmachenden Spruch vermerkt:
"Man muß endlich neues wagen - jede und jede!"
Und spätestens seit der Spiegel helmut Volkmann vor einigen
Wochen zum Siemens-Spinner vom Dienst geadelt hat, laufen die
Einladungen zu den Talkschows auf.
Volkmanns "Xenia" aber will Wirklichkeit werden und
nicht nur Pappmasche oder buntes Bilchen bleiben. "Es tut
sich was", sagt Volkmann vorsichtig. Er hofft seine "Wissensstadt"
wie ein Disneyland der Moderne auf der Expo 2000 im großen
Maßstab präsentieren zu können. Und in den virtuellen
Welten des Cyberspace wird man sie vielleicht schon früher
begehen können.
Selbst mit der unternehmensführung darf sich der firmeneigene
Zukunftsdenker inzwischen im Einvernehmen fühlen: Der Kuckuck,
der ihr so exotische Eier ins Nestlegt, wird in den Siemens-Chefetagen,
so hört man, allmählich als Paradiesvogel wahrgenommen.
Welch ein Job. Badische Zeitung, 26. Juni 1996 Nr. 145 / 3 |