Konzerne

"Meine Chaos-Chance"

SPIEGEL-Redakteurin Michaela Schießl über die bunten Visionen des Siemens-Querdenkers Helmut Volkmann

Manchmal scheint es, als sei er sich selbst nicht ganz geheuer. Unsicher wühlt der freundliche ältere Herr in all den Etiketten, die andere ihm angeheftet haben.

Ein Querdenker? Das klingt nichtssagend. Unternehmensphilosoph? Zu überkandidelt. Zukunftsprognostiker? Ein Modewort. Hofnarr? Pausenclown? Paradiesvogel? Schon eher. Aber sein Favorit steht fest: "Ich bin hier der Spinner vom Dienst."

Auf seiner Visitenkarte hat er seine Lieblingsberufsbezeichnung allerdings nicht verwendet. Artig steht da: Dr. Helmut Volkmann, Direktor in der Zentralabteilung Forschung und Entwicklung.

Diesen Titel bekam er, als er vor zehn Jahren ein ungewöhnliches Angebot wahrnahm: Siemens stellte den langjährigen Mitarbeiter frei - zum Denken. Ohne Zielvorgabe, ohne Kontrolle, ohne Zeitbegrenzung soll er sich Gedanken machen, wo die Welt im allgemeinen und Siemens im besonderen hindriftet.

Hätten die Siemens-Manager damals gewußt, was sie da auslösen, sie hätten vielleicht die Finger davongelassen. Denn Volkmann hält sich strikt an die Abmachung. Im siebten Stock von Data-Sibirsk, wie das futuristische Siemens-Gebäude in München-Neuperlach genannt wird, hat er sich zurückgezogen in seine evolutionäre Nische, unabhängig denkt er vor sich hin ohne Rücksicht auf irgend jemanden, und vor allem ohne Rücksicht auf Verluste.

Was dabei herauskommt, ist wenig schmeichelhaft für das Siemens-Management. Der Konzern verliere an Innovationsfähigkeit, weil zu wenige Spitzenmanager wirklich "scharf sind auf Neuerung". Volkmanns Erkenntnis: "Die Führung ist der Engpaß."

Formvollendet im dunklen Zweireiher und umgeben von Schaubildern, Kinderzeichnungen, Computerbildschirmen und Plastikmodellen hockt er da in seinem Atelier und geißelt die Mentalitäten der Global Player. Statt Visionen zu entwickeln, haben die sich aufs Verhindern verlegt, klagt er. "Sicherheitssiedler" nennt er diese Charaktere. Benötigt würden "Paradigmenpioniere", die sich in der wirklichen Welt herumtreiben, auf der Suche nach neuen Lösungen.

Von denen gibt es, glaubt Volkmann, entschieden zu wenig: "Wir sind Weltmeister geworden im Erfinden, was alles nicht geht." Statt die Gesellschaft auszuspähen, Wagnis-Ideen zuzulassen, verschanzen sich die Manager in Konferenzsälen. Probleme werden als Gefahr gesehen, schon die Diskussion um den Dissens ist streng verboten.

Seine Stimme bleibt ruhig, seine Haltung locker, nur die Wangen röten sich, wenn Volkmann die gravierendsten Fehlentwicklungen aufzählt: Für die Führungskräfte sei Wirtschaft nichts als Gewinnmaximierung, völlig unabhängig von den Bedürfnissen der Menschen und der Gesellschaft, glaubt er. So seien falsche, menschenfeindliche Leitbilder entstanden: die autogerechte Stadt, die menschenleere Fabrik, das papierlose Büro. "Wer denkt sich so einen Unfug aus."

Früher, sagt er, gab es klare Leitbilder. Etwa, als Kennedy die Parole ausgab, er wolle Menschen zum Mond schicken und heil wieder herunterholen. Oder die Vision, daß alle Amerikaner jederzeit mit allen anderen sprechen können. So entstand das Telefon.

Nun, so glaubt Volkmann, stehen die Welt und ihr sechstgrößter Elektronikkonzern wieder vor einer gewaltigen Umwälzung: Die Informationsgesellschaft beginnt. Und er will nichts Geringeres, als ein neues Leitbild dafür kreieren. Wie das ausschaut, weiß er noch nicht.

Eine Debatte darüber in Gang zu bringen, das ist sein Ziel. Ideen, möglichst schrill, warum nicht auch spinnert, haben für ihn vor allem einen Zweck: Sie sollen gedankliche Verkrustungen sprengen.

Abenteuerliche Dinge schweben ihm vor, etwa Waren mit Doppelbepreisung: Neben dem Ladenpreis steht der gesellschaftliche Gesamtpreis, die Summe aus Herstellung, Entsorgung und Umweltbelastung des Produkts. So könnten sich die Leute entscheiden, was ihnen wichtig ist.

Oder die Idee, der Steuererklärung eine Wunschliste beizufügen, auf die der Bürger schreiben kann, wofür er seine Steuer ausgeben möchte. "Wenn die Politiker sehen, daß kein Mensch Waffen finanzieren will, müßte ihnen das zu denken geben."

Wenn Volkmann in Fahrt kommt, redet er, als werde er von Joschka Fischer bezahlt und nicht von Siemens. Gesellschaftliche Verantwortung? Verteilungskampf? Abkehr vom Fortschrittsglauben? Orientierung an der Natur? Information als Werkzeug zu mehr Selbstbestimmtheit? Teufelszeug ist das in den Ohren der Kapitalisten, und ab und zu muß sich Volkmann auch im eigenen Hause fragen lassen, ob er Kommunist sei.

Etwa, als er in Erlangen einen Kollegen persiflierte. Nachdem der einen erztraditionellen Wirtschaftsvortrag beendet hatte, stellte sich Volkmann hin und zitierte Mao. "Das war ein Spaß", feixt er.

Der Berufsdenker wildert in allen Philosophien: Mal wird Karl Raimund Popper strapaziert, dann das chinesische I Ging. Leben muß man so vorbildhaft wie Gandhi und so unbeugsam wie der Messias.

Viele seiner Vorgesetzten hoffen inbrünstig, der Siemens-Prophet möge heiser werden. Der Vorstand stellt sich ohnehin taub. Denn so war die Sache nicht gedacht. Vielmehr sollte der eigenwillige Manager zur Räson gebracht werden.

Mit 17 trat der Berliner Volkmann in den Betrieb ein, machte eine kaufmännische Lehre, studierte nebenher Wirtschaft und Maschinenbau. Später entwickelte er gruppendynamische Prozesse - ein echtes Coming-out für ihn, die erste Idee, daß Führung auch Hilfe und Zusammenarbeit sein kann statt Hierarchie und Befehle.

Im Jahre 1977 wurde er Abteilungsleiter für Software-Engineering, 300 Mann hörten auf sein Kommando. Nebenher studierte er Politik, und wie besessen durchforschte er das Wesen der Informationsgesellschaft. Irgend etwas fehlt da noch, um wirklich eine neue Qualität zu bekommen, so seine Vermutung: "Die Informationsgesellschaft muß mehr sein als Informationstechnik plus Industriegesellschaft."

Der Verdacht ließ den Siemens-Mann nicht mehr los. Er forschte, schrieb seine Gedanken auf, hielt immer öfter Vorträge. Zu oft, befand sein Chef. Und stellte ihn vor die Alternative, sich mehr um seine Abteilung zu kümmern oder sich ganz der Hirnakrobatik zu widmen.

Volkmann, gerade 50 geworden, tat, womit keiner gerechnet hatte: Er wählte die zweite Option. "Das war schon hart, irgendwie dachte ich, jetzt stellen sie mich aufs Abstellgleis." Aber er war sich sicher, daß Nachdenken wichtiger ist. "Ich habe meine Chaos-Chance erahnt."

Denn er glaubt an die positive Wirkung des aus der Chaosforschung stammenden Schmetterlingseffekts: Wenn der Schmetterling, der in China mit den Flügeln flattert, in Kanada einen Wirbelsturm auslöst, warum soll er, der Spinner in der Dachkammer, mit seinen Fragen nicht auch ein Umdenken auslösen können?

Das war die Zeit, als er begann Stimmen zu hören. Allein in seinem Büro, schuf sich Volkmann virtuelle Mitdenker: Kai aus der Kiste, Tom Sawyer, Wahrsagerin Ewa Pragma, Medic der Zwilling, Fips das Kleine, Ingo der alte Ingenieur. Zwei Jahre lang ließ er sie in seinem Kopf diskutieren, Geschichten erzählen, Zeitreisen antreten. Sie erfanden eine Unsinnmaschine, die rückwärts laufen kann.

"Wir reisten zur Geburtstagsparty des Urknalls, trafen dort die Phänomene und quatschten bis spät in die Nacht mit ihnen", erzählt Volkmann so ernst, als zitiere er aus einem Geschäftsbericht.

An dieser Stelle kontrolliert er die Gesichter seiner Zuhörer und findet peinliche Berührtheit. Ein Mann, der mit Kinderfiguren die Zukunft erforscht? Durchgeknallt, na klar, total gaga geworden. Ein echter Spinner, keine Frage.

Spätestens, wenn er sich vor sein buntes Pappmodell der Wissensstadt Xenia stellt, in die Knie geht, die verschiedenen Perspektiven ausprobiert und sich benimmt wie Pappi vor Sohnemanns Modelleisenbahn, zweifelt man am Geisteszustand des Herrn Abteilungsdirektors.

Dann grinst er selig und läßt die Falle zuschnappen. "Wir wagen es nicht mehr, Gedanken zuzulassen. Wir haben verlernt, was Kinder noch können, uns etwas zu wünschen." Taucht ein Problem auf, wird stringent an der Kompromißlösung gearbeitet. "Wir fragen nicht: Was wollen wir? Was können wir riskieren? Wir riskieren nichts, abseits der Trampelpfade werden keine Ideen gesucht."

Und keine neuen Produkte entwickelt. Dabei ist sich Volkmann sicher: Ethisch korrekte Waren, Produkte, die Lösungen aufzeigen, werden einen gewaltigen Markt schaffen. "Vor zehn Jahren haben die Unternehmen abwehrend ihre Krallen ausgefahren, wenn es um Umwelt ging. Heute ist Deutschland der größte Exporteur von Umweltprodukten."

Doch wie schafft man es, ein Klima für Innovationen herzustellen? "Mit vielen Xenias", sagt Volkmann, "mit Städten des Wissens, in denen man lernt, mit Information umzugehen." Große Hallen möchte er einrichten, in denen sich Menschen treffen, die an einem Problem arbeiten wollen; Räume, groß und hell, damit Gedanken fliegen können, ausgerüstet mit hochtechnisierten Online-Medienstationen, wo die Informationsflut der Datenautobahnen aufbereitet wird. Eine riesiges Bild, kleinteilig gestaltet wie eine Kinderzeichnung, soll die Breitseite der Halle einnehmen. Eine Art Landkarte für die Wagemutigen, die aufbrechen von der Chaosstadt Babylon über das "Me(e)hr des Marktes" zum Kontinent der Lösungen, vorbei an den Untiefen bis hin zum "Hafen der Erkenntnis". "Rudert mal rüber zu den Inseln der Bedürfnisse, klettert aufs Massiv der Wagnis-Ideen!" spornt Volkmann die Betrachter an. "Es macht Spaß, anders zu denken, sobald man die Lächerlichkeit nicht mehr fürchtet."

Ein Xenia hatte er bereits. Siemens stellte ihm eine 600-Quadratmeter-Halle auf dem Werkgelände zur Verfügung. Er füllte sie mit Pflanzen, Computern, Bildern. "Hier ist ja Platz zum Denken", jubelte damals ein Führungsmitglied.

15 Monate lang konnten die Siemens-Mitarbeiter ihre Hirne sausen lassen, dann fiel der Lernraum einer Sparmaßnahme zum Opfer. Ein herber Rückschlag für den Mann, der die Gesellschaft fit machen will für ein neues Zeitalter.

Die Oberen der Siemens-Hierarchie mögen ihn nicht und meiden ihn. Offiziell wird er nicht zu den Fortbildungskursen für die 380 000 Siemens-Mitarbeiter angefordert. Zu unangenehm sind seine Zukunftsprognosen, zu dreist stellt der hochbezahlte Querulant die Weisheiten seines Zentralvorstandes in Frage.

Und doch zeigt Volkmanns Beharrlichkeit langsam Erfolge. Wie ein Schauspieler, der von seiner Entdeckung träumt, tingelt er durch die Provinz und propagiert sein Modell. Immer öfter wird er eingeladen. Er spricht vor Hausfrauen, Arbeitslosen, vor Vorstandsmitgliedern, Wissenschaftlern, Unternehmern, Monteuren. Die Anfragen häufen sich, und langsam wächst auch die Zahl seiner Unterstützer im eigenen Betrieb.

Der Spinner, das merkt auch Siemens, ist nicht länger im stillen Kämmerlein zu halten. Und so rang sich der Vorstand 1995 nach langer Diskussion dazu durch, ihn und seine Pappstadt Xenia zur Computermesse Cebit zu schicken. Der Erfolg war durchschlagend - auch für Siemens. "Die Leute fassen mich an und können es kaum glauben, daß sich die Firma einen Menschen wie mich leistet."

Der Imagegewinn, den er für Siemens ranschaufelt, übersteigt seine Kosten um das Vierfache, rechnet Volkmann. Daß er, privat eher ein Atomkraftgegner, als Feigenblatt für die Unternehmungen seiner Firma wirkt, läßt ihn kalt. "Ich bin der Hofnarr, okay. Aber das ist meine Chance, daß überhaupt jemand zuhört."

Je mehr Zulauf er hat, desto eher muß auch das Siemens-Management mit ihm reden. Er forciert das nicht, sagt er. Aber wenn die hohen Herren doch vorbeischauen, dann ist Volkmann bereit: "Sagen Sie Herrn Pierer, ich erwarte ihn."

DER SPIEGEL 20/1996



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