Stadt der 1000 Kreuzungen

Siemens zaubert eine virtuelle Stadt auf den Bildschirm: In Xenia kommuniziert jeder mit jedem, herrscht die vollkommene Info-Demokratie. Jungakademiker sollen die Stadt weiter ausbauen.

Die Probleme von heute sind die Geschäftsmöglichkeiten von morgen", frohlockt Dr. Helmut Volkmann von der Zentralabteilung Forschung und Entwicklung der Siemens AG in München. Sicherheit und Gesundheitsvorsorge, Telematik und Verkehr, ressourcenschonende Produkte und intelligentes Recycling, Energieeinsparung und komfortable Kommunikationssysteme seien Themen der nächsten Jahre.

Siemens hat eine Vision, wie die Problemlösungsgesellschaft der Zukunft aussehen könnte. Mehr noch, Siemens hat schon einen Entwurf. Der High-tech-Riese stellte ihn auf der diesjährigen CeBlT in Hannover vor: den Plan einer digital vernetzten Stadt des Wissens namens "Xenia", zu deutsch "die Gastliche". Auf diesem virtuellen, multimedial ausgerüsteten Campus rücken Forschung, Lehre, Kunst, Kultur und Unterhaltung zusammen.

Xenia bündelt auf programmatische Weise mehrere Geschäftsfelder von Siemens: Öffentliche Kommunikationsnetze - dazu zählen Telefonvermittlungssysteme, Netzwerk-Software, Richtfunk und Mobilfunk- und private Kommunikationssysteme - Systemtelefone bis hin zu multimediafähigen Endgeräten - steuern im merhin 19 Milliarden DM zum Gesamtumsatz von 84,6 Milliarden DM bei.

Die Schlüsseltechnologie lieferte das neue Geschäftsfeld Vernetzungstechnik, mit dem Siemens im Frühjahr 1994 in das Multimedia-Geschäft einstieg. Der Bereich hat 1000 Mitarbeiter und erzielte 0,8 Milliarden DM Umsatz. In einem weiteren Geschäftsfeld "Audio- und Videosysteme" (311 Millionen DM Umsatz) sind Großprojekte zur Rundfunk- und Studiotechnik angesiedelt, die das Multimedia-Know-how abrunden.

Besucher erreichen Xenia über die Da tenautobahn. Sie können zwischen Teleshopping und Telekooperation wählen oder sich in einem Atelier für Innovatoren einklinken. Damit niemand im Info-Dschungel die Orientierung verliert, entschieden sich die Vordenker bei Siemens für einen Aufbau nach Art einer realen Stadt.

Verständlich und anschaulich solle die künftige informationelle Umwelt sein, fordert Volkmann. weil sonst nur Experten zum Ziel fänden. "Es muß Wissen in Szene gesetzt werden wie in einem Theater", wirbt er für das Technikleitbild, das den Aufbruch ins multimediale Zeitalter der Breitbandkommunikation einläuten soll und an dem Siemens wie viele andere Unternehmen verdienen möchte.

Wer heute frisch von der Hochschule als Elektroingenieur, Informatiker oder Naturwissenschaftler bei den Münchenern einsteige, sagt Hochschulreferentin Susanne Burger, könne sicher sein, daß Multimedia und Vernetzungstechnik seinen Arbeitsalltag zunehmend prägen werden. Doch es kommt wenig Euphorie auf, wenn ich dieses Thema anspreche", wundert sich Burger. Studenten und Absolventen, die sich auf der CeBlT bei ihr nach Einstiegschancen erkundigten, fragten "eher nach den klassischen Tätigkeiten".

Das sei insofern verständlich, als sich diese Interessenten schon vor zwei oder drei Jahren für einen Studienschwerpunkt entscheiden mußten. Inzwischen habe sich aber die Situation geändert: Wenn fortgeschrittene Semester heute kein Interesse für multimediale Informations- und Kommunikationstechniken aufbrächten, würde sie das schon etwas erschrecken", sagt Burger.

Bei der Beurteilung neuer Bewerber achte Siemens neben den fachlichen Qualifikationen immer mehr auf das persönliche Auftreten. Sie erwarte zwar nicht den professionellen Rhetoriker, aber doch Grundkenntnisse in Präsentationstechniken, "auf die wir aufsetzen können", betont Burger. Weil Teamarbeit immer wichtiger werde, rät sie, auch mal eine Diplomarbeit "zu dritt oder zu viert zu stemmen". "Dann bekommt man einen Vorgeschmack auf die Realität in der Industrie und erfährt, wie es ist, wenn jeder eine Aufgabe verantworten muß und letztlich doch alles zusammen passen soll." Pluspunkte sammeln Bewerber, die Auslandsaufenthalte und einen Notendurchschnitt von "zwei" oder besser nachweisen. Bis Ende 1994 stellte Siemens über 100 neue Mitarbeiter auf Teilzeitstellen ein, ein Trend, der sich auch in diesem Jahr fortsetzen werde. Vorsichtig, als könne sich der zaghafte Aufschwung jederzeit umkehren, weist Susanne Burger auf die - verglichen mit anderen Bereichen - derzeit guten Einstellungschancen auf dem Kommunikationssektor hin.

Ob das die Vorboten des vielbeschworenen Big Bangs der Multimedia-Technik sind, dürfte sich innerhalb der kommenden drei bis maximal fünf Jahre erweisen. Hinter den Kulissen sind die Planungen für die virtuelle Informationslandschaft der Zukunft jedenfalls in vollem Gang.

Thomas Hartge

Handelsblatt, Beilage Karriere, Februar 1995



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