Zu Gast: Der hauptberufliche Visionär

Wie der unbändige Verkünder einer neuen Heilslehre sieht er nicht gerade aus. Helmut Volkmann trägt einen etwas zu weit geratenen grauen Anzug, daüber den unvermeidlichen dunkelblauen Mantel. Daß dieser hauptberufliche Zukunftsforscher auch gern den angenehmen Dingen des Lebens zuspricht, verrät sein leichter Bauchansatz. Doch alles in Maßen: Obwohl ihn die Münchener Vorstandszentrale des Elektrokonzerns Siemens mit einem sechsstelligen Jahresgehalt ausstattet, verzichtet er auf die standesgemäße Anreise im Flugzeug oder im Erste-Klasse-Abteil des ICE. Er sieht sich gern vom Auto aus Landschaften an, deshalb ist der Ingenieur kürzlich mit dem VW-Bus zu einem Vortrag nach Hannover gekommen. Sehen, Beobachten, Visionen entwickeln: Das gehört für ihn zum Alltag.

Auch nach acht Jahren fällt es ihm noch schwer, seine genaue Aufgabe bei Siemens in wenigen Worten zu beschreiben. Für die Berufsbezeichnung muß er schon weiter ausholen: "Ich befasse mich mit der Frage, welche Bedeutung die Information für die Zukunft der Gesellschaft hat und welche Konsequenzen sich daraus für die Technik ergeben." Vor ein paar Jahren hatte eine Zeitschrift ganz andere Worte für den hochdotierten Siemens-Manager gefunden: "Spinner vom Dienst" lautete der Titel.

Helmut Volkmann, auf seine Art gleichzeitig großzügig und bescheiden, findet Gefallen an der frechen Erfindung des Journalisten. "Das kommt einer echten Anerkennung gleich", meint der 57jährige, "Spinnen ist doch etwas Kreatives." Diese Art der Rückendeckung tut ihm gut, denn so ganz unumstritten ist seine Position im eigenen Hause nun doch nicht. Trotz der Unterstützung durch den Siemens-Vorstand muß er sich manchmal im Kollegen-Kreis die Frage gefallen lassen, was er währens eines Arbeitstages überhaupt macht.

Anfang der achtziger Jahre begannen im Konzern die Überlegungen, ob sich Siemens mit Helmut Volkmann einen hauptberuflichen Zukunftsforscher überhaupt leisten sollte. Zum Auslöser wurde das Buch "1984" des englischen Schriftstellers George Orwell. "Man war sich im Unternehmen darüber einig, daß die im Roman beschriebenen Auswüchse moderner Informationstechnologie verhindert werden müßten", skizziert Volkmann die damalige Ausgangssituation.

Daß gerade er für diese Aufgabe ausgewählt wurde, hatte er einer über Jahrzehnte hinweg nachgewi8esenen Zuverlässigkeit zu verdanken. "Wenn er diesen Job partout will, dann soll er doch", hieß es damals in der Siemens-Führungsetage. Seit 1954 arbeitete Volkmann bereits im Konzern, angefangen hatte er als einfacher kaufmännischer Lehrling. "Meine früheren Funktionen im Unternehmen kann ic heute in der Forschungsarbeit verschmelzen", unterstreicht Volkmann, der zeitgleich zum Siemens-Berufsalltag Wirtschaftswissenschaften sowie Maschinenbau studierte und später noch die Doktorarbeit nachlegte. Information ist für den Wahl-Münchener mit Geburtsort Berlin das absolute Schlüsselwort. Ob Computer, Datenverarbeitung, Multimedia oder Kommunikation - das sind für ihn die unwiederruflichen Dreh- und Angelpunkte der Zukunft.

Seine Sicht der Welt von morgen ist gleichzeitig von Skepsis und Zuversicht gekennzeichnet. "Keine Frage, wir haben es fünf vor zwölf", verkündet es sein düsteres Bild der Gegenwart. Doch aus dem Einsatz moderner Informations- und Datentechnik schöpft er gleichzeitig die Hoffnung, daß sich so drängende Probleme wie Arbeitslosigkeit und Umweltverschmutzung lösen lassen. Offenheit und Flexibilität sind für ihn Garanten der Zukunft, Visionen brauche die Gesellschaft. "Wir müssen wieder schauen lernen", erklärt er, "wie ein Kind, das in einem Bilderbuch blättert."

Wenn er an seinen eigenen Visionen und neuen Konzepten für die Computertechnik arbeitet, zieht er sich ins stille Kämmerlein zurück. Stundenlang sitzt er am Schreibtisch und hält alles fest, was ihm spontan einfällt. "Das kann zehn Stunden anhalten und so lange dauern, bis mir die Finger whe tun, weil ich den Stift nicht mehr fassen kann", erzählt Volkmann über seine Arbeitsmethoden. Er vergleicht sich mit Schriftstellern oder Erfindern, die ebenfalls zurückgezogen an ihren Konzepten tüfteln.

Aus Volkmann sprudelt es heraus, niemand zwingt ihn dazu, die Ideen sind einfach da. Wichtig ist ihm, "in die Zukunft zu denken, auch wenn der Sinn noch gar nicht so recht zu erkennen ist." Das fordert allerdings seinen Preis. Er hat sich damit abgefunden, daß die von ihm über Monate hinweg entwickelten Konzepte manchmal nicht sofort und Problemlos von jedermann begriffen werden können. Zumal der Einsatz moderner Informationstechnik das Verständnis zusätzlich erschwert.

Trotzdem gibt sich der 57jährige Ingenieur gelassen, daß er am Ende doch verstanden wird. "Wie ein junger Schauspieler muß man über die Dörfer ziehen und sich seines Talents sicher sein. Enmutigen lassen darf man sich dabei nicht." Die Zuversicht verläßt ihn auch deshalb nicht, weil seine Frau inzwischen die fremde Gedankenwelt versteht und ihm Rückhalt gibt. Und weil eine seiner Gedankenspielereien zur Entwicklung einer neuen Software für Kraftwerke geführt hat, kann er auch etwas praktisch Anwendbares vorzeigen und die Neider im eigenen Unternehmen zufriedenstellen.

Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 21.2.94



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