Lizenz zum Spinnen

Helmut Volkmann, Abteilungsdirektor für Forschung und Entwicklung und seit etlichen Jahren bei Siemens, bekam vor sieben Jahren eine seltene Chance: Er wurde zwei Jahre lang freigestellt und durfte über die Zukunft der Informationsgesellschaft nachdenken.

Was ich gemacht habe in dieser Zeit? Ich habe mir Geschichten erzählt, zum Beispiel diese: Am liebsten würde ich, sagte der Entwickler, eine Unsinnmaschine bauen. Eine Maschine, die am Anfang ganz normals funktioniert, dann aber plötzlich anfängt, verrückt zu spielen. Grafische Darstellungen fangen an, sich zu verheddern, Codes geistern durch die Netze, das Ganze ist starkstromgetrieben und explodiert.

Warum bauenb Sie nicht mal einen Prototyp, fragte der Manager. Aber das ist doch Unsinn, sagte der Entwickler, was wollen Sie denn mit so einem Ding in der Realität anfangen? Die Antwort ist zweichfach überliefert. Der eine soll gesagt haben: Ich könnte mir eine Anwendung im Sicherheitsbereich vorstellen. Ihn hatte offenbar das Wort Explodieren auf eine Idee gebracht. Der andere soll gesagt haben: Ich würde die Maschine rückwärts laufen lassen, daraus könnten wir viel lernen.

Wenn man solche kleinen Geschichten entwirft oder welche von anderen studiert, dann bekommt man Assoziationen, Analogien und Einfälle, auf die man bei normalem, schlußfolgerndem Denken nicht kommen würde. Und ich glaube, das macht einen Teil der Kreativität aus - man kann die Gedanken in andere Bahnen lenken.

Warum wir uns damit so schwer tun? Kreativität ist unbequem und nicht berechenbar. Es sind Lippenbekenntnisse, wenn man sagt, ich suche kreative Mitarbeiter. In Wahrheit sucht man bequeme Mitarbeiter, solche, die nicht aus der Bahn brechen. Ein weiterer Grund für unsere Barrieren. Wir haben gelernt, Komplexität zu reduzieren - und fahren in vielen Bereichen gut damit. Der Mißbrauch fängt an, wenn wir verdrängen, wenn wir Komplexität nicht wahrhaben wollen, sie leugnen oder sogar vergewaltigen. Die übliche Politikerrede, von wegen "kein Handlungsbedarf", das ist Vergewaltigung von Komplexität. Denn jeder weiß, daß Handlungsbedarf da ist, genau da. Der kreative Mensch hat ein gutes Verhältnis zur Komplexität, er fürchtet sich nicht davor. Er setzt Kreativität ein, um damit fertig zu werden.

Und das kann man lernen. Es gibt eine Reihe von Methoden und Techniken, aber man muß sie eben anwenden, sie leben. Sonst kann man sie nicht verstehen und ihre Vorteile bewerten lernen. Wenn man seine Angst verloren hat, ist es ganz einfach, sich auf Dinge einzulassen. Es macht Spaß, anders zu denken, sobal man die Lächerlichkeit nicht mehr fürchtet. Als ich mich angesichts des Orwell-Jahres dafür zu interessieren begann, die Zukunft der Informationstechnik zu erforschen, und ich grünes Licht bekam für meine Idee, habe ich zunächst nichts weiter getan als nachzudenken.

Am Anfang erst einmal über mich selbst. Man fragt sich bei so einem Job natürlich schon: Ist das jetzt der Anfang vom Ende? Wollen sie dich kaltstellen? Vor allen Dingen fragt das die Umwelt. Heute ist jedem klar, das Experiment war ein Erfolg. Aber das war nicht zu jedem Zeitpunkt gesichert und schon gar nicht, als es begann.

Die kleine Geschichte von vorhin war die dritte, die ich damals erfunden habe. Und sie hatte mich angeregt, mir vorzustellen, ich würde in einer Gruppe mit Menschen arbeiten, die solche Phantasien haben. Und dann habe ich mir eine solche virtuelle Gruppe gegründet.

Die Mitglieder sind: Kai aus der Kiste, Tom Sawyer, Medic, der Zwilling. Fips, das Kleine (ein Es, ein Naivling); Eva, die schöne Wahrsagerin und Ingo, der alte Ingenieur. Die Gruppe stand im Auftrag eines virtuellen Unternehmers, eines Traumunternehmers, der Verständnis für sie hatte und bereit war, von ihr zu lernen. Und mit dieser Gruppe bin ich dann ib Klausur gegangen, ich habe sie moderiert, und gemeinsam sind wir in die Zukunft aufgebrochen. Wir haben viele spannende Expeditionen gemacht, und manchmal mußten wir, um die Zukunft zu verstehen, zurückgehen in die Vergangenheit. Bis ganz in die Nähe des Urknalls sind wir gekommen, haben Partys gefeiert und gesehen, wie die Welt entstanden ist.

Auf diesen Expeditionen haben wir sogenannte Wagnis-Ideen erzeugt, in Analogie zum Wagniskapital. Ideen also, von denen man nicht weiß, welche gutgehen und welche nicht - aber wie es heute scheint, sind einige brauchbare dabei.

Kreativität heißt, mit ungewöhnlichen Methoden Dinge zu denken, die uns täglich betreffen, sie bis an Lösungsschwellen voranzutreiben, Spaß daran zu haben und nicht zu verzeifeln. Sie müssen die Geschichten so erzählen, als ob es gelingen könnte, und dann erfolgt irgendwo eine Transposition dieser Kräfte, die dann freigesetzt werden, auf Dritte. Im Herbst 1991 beispielsweise bekam ich das Angebot, ein Team aufzubauen, das sich mit dem Thema Information auseinandersetzt - ein paar Tage vorher hatte ich der Geschäftsleitung eine meiner Geschichten dazu erzählt.

aus: Manager Magazin 4/93



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