Spinner vom Dienst

Süßer Pfeifenrauch liegt in der Denkerstube im hintersten Winke´l der Siemens-Bürowüste, genannt Data-Sibirsk, in München-Neuperlach. Dr. Helmut Volkmann, 54 Jahre alt, einer der beiden Direktoren der Abteilung Informations- und Wissensverarbeitung im Zentralbereich Forschung und Entwicklung, erzählt von seinem schönsten Geburtstagsgeschenk: Zum Fünzigsten bekam er den offiziellen Auftrag, "nachdenken zu dürfen, ohne genaue Vorgaben, worüber."

Bis dahin hatte der gelerente Wirtschaftsingenieur in über 35 Dienstjahren "beim Stab und in der Linie" Erfahrungen gesammelt. Mehrfach organisierte er Tagungen für die oberen 1800 des Elektronikkonzerns mit weltweit über 370 000 Beschäftigten. Jetzt sollte er hauptberuflich querdenken.

Da er in seiner unmittelbaren Umgebung keinen geeigneten "Mitspinner" fand, machte er "aus der Not eine Tugend": Er eröffnete die Gesprächsrunde mit einer "virtuellen Gruppe". Er ließ sechs Personen in seinem Kopf diskutieren, die real nicht existierten: Tom Sowyer; Kai aus der Kiste; die schöne Wahrsagerin Eva Pragma; Medic, der Zwilling (steht für Methodik und Didaktik"; vip's, das Kleine (der naive Parzival der Truppe) und Ingo, der alte Ingenieur.

Gemeinsam mit ihrem Erfinder ging die Gruppe, die sich Venture Idea Pool (Wagnis-Ideen-Kartell), kurz VIP, nannte, auf ausgedehnte Gedankenexpeditionen in ein Land der Zukunft oder zurück "bis in die Nähe des Urknalls".

Unterwegs durchquerten die glorreichen Sieben gesellschaftliche Sümpfe und galaktische Orkane, erlebten die Evolution und die Schöpfungsgeschichte. Zwei Jahre ging das so: Von neun bis fünf Uhr, manchmal länger, moderierte der in der Welt von Data-Sibirsk hochangesehene Dr. Volkmann Stimmen in seinem Kopf. Anschließend diktierte er Pfeife schmauchend das Gehörte seiner Sekretärin. Dicke Kladden entstanden.

Darin findet sich, unter anderem, die Erkenntnis der Zeitreisenden, daß die Entscheidungsträger von Wirtschaft und Politik heute nicht mehr in der Lage seien, mit der verflochtenen Vielfalt der Welt umzugehen. Das Wissen der Menschen habe sich explosionsartig ausgedehnt, stellte VIP fest.

"Wir haben gelernt, Komplexität zu beherrschen, indem wir sie reduzieren", sagt Dr. Volkmann. "Wir reduzieren die Probleme, weil uns die denkmethodischen Werkzeuge, die Denkzeuge dafür fehlen. Auf Konferenzen wird oft ein Zehn-Millionen-Projekt in drei Minuten verabschiedet und dann stundenlang über die Farbe des neuen Fahrradständers gestritten. Das ist unüberschaubarer. Wir müssen aber lernen, die Probleme neu zusammenzubinden."

Als Lösungsansatz für das Management von morgen sieht er "Informationsmärkte", in denen alles greifbare Wissen auf elektronischen Pinnwänden und Multimedia-Monitoren zur Verfügung steht. Erst wenn alle vielfältig verflochtenen Aspekte eines Problems vom Management beleuchtet worden sind, wird entschieden.

Zwei Jahre nach dem Ende der mentalen Odyssee ist ihr Reiseleiter immer noch mit der Auswertung beschäftigt. Selbstverständlich sind die Wagnis-Ideen Eigentum von Dr. Volkmann bzw. der Siemens AG, und offenbar hat sich der Weg für alle gelohnt.

"Man müßte alle Waren mit einer Art Doppelbepreisung auszeichnen. Neben dem Ladenpreis steht dann der gesellschaftliche Gesamtpreis, die Summe aus Herstellung, Entsorgung und Umweltbelastung des Produktes. Das würde", sagt Dr. Volkmann, während blutrot die Sonne hinter Data-Sibirsk versinkt, "dem Ökologiebewußtsein einen ungeheuren Schub geben."

Tempo Januar 1991 (Ausschnitt)



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