Information als Wertschöpfungs-, Gestaltungs-

und Operationsfaktor

Herausforderungen der Praxis; Erfordernisse für die Theorie

Ein Pamphlet

wider die Blauäugigkeit der Technologiedominanz


Helmut Volkmann, München



1. Wirkungsoptimale Nutzung und/oder informationales Babylon

2. Kontextuelle Konstellationen

3. Zur Praxis der wirkungsoptimalen Nutzung der Information

4. Das Potential der Informatisierung und Telematisierung

5. Kontextuell orientierte Informationsverarbeitung

6. Informationswissenschaft: Wer schafft das Fundament?

1. Wirkungsoptimale Nutzung und/oder informationales Babylon

Chancen der Informatisierung

Die reichen entwickelten Industriegesellschaften befinden sich im Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft. Große Hoffnungen für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung werden mit den neuen und erweiterten Nutzungsmöglichkeiten der Medien-, Informations- und Kommunikationstechnik verbunden.

Zwei große Trends zeichnen sich ab, die der Informationsindustrie - von den equipmentbereitstellenden Unternehmen bis zu den Applikationsbetreibern in Form der großen Medienkonzerne - einen Aufschwung bescheren:

Informatisierung: Einsatz von Methodologien und Technologien für die Nutzung von Information in Systemen und Produkten, in den Prozessen ihrer Erstellung und an den Arbeitsplätzen der informationalen Wertschöpfung. Beispiele: intelligente Produkte, Leitwarten in industriellen Prozessen, Arbeitsplätze für Engineering und Projektierung.

Telematisierung: Nutzung von Teletechniken aller Art aus dem Medien-, Kommunikations- und Computerbereich für die Bereitstellung und Verteilung von Informationen im weltweiten Verbund der Netzwerke der "informationalen Verkehrswege". Beispiele: Tele-Betrieb, interaktives Fernsehen, Tele-Teaching, Gruppenarbeit.

Sie repräsentieren sozusagen zwei Seiten einer Medaille; sie ergänzen sich gegenseitig.

Es bietet sich eine Fülle wahrnehmbarer Chancen für viele Applikationen (8). Es wird von den Befürwortern der Informatisierung und Telematisierung daher auch nicht versäumt, diese alle (wieder) in Verbindung mit dem Ansatz der Datenautobahnen anzuführen. Stichworte genügen:

schnelle und weltweite geschäftliche Transaktionen, Tele-Shopping für Konsum- und Investitionsgüter, bürgernahe Administration mit bedarfsgerechten Services, Verbesserungen im Bereich von Gesundheit und Medizin, Erleichterungen und Anregungen für Reise und Freizeit, Intensivierung von Schulung und Training für jedermann, Förderung von Bildung und Kultur

Risiken eines informationalen Babylon

Kritiker hingegen befürchten, daß im repetitiven Massengeschäft ansetzende Applikationen bis hin zur Unterhaltung zwar mit großem Kapitalaufwand entwickelt und betrieben werden, aber daß bei Verfolgung einseitiger Interessenlagen Schulung und Training für lebenslanges Lernen und die dazu notwendige Förderung von Bildung und Kultur eher zu kurz kommen. Der innovative Bereich mit Applikationen für Planung und Projektierung, für das Information Engineering bis hin zu Problemlösungen zu den großen Bedarfsfeldern der Gesellschaft wird - meistens erst nach eindringlicher Nachfrage in den Diskussionen - zwar argumentativ in die Betrachtungen einbezogen, gerät aber mangels noch nicht ausreichend erkennbarer Nutzungsperspektiven schnell wieder in den Hintergrund. Gerade im innovativen Bereich liegen aber die großen Herausforderungen für die aktive Zukunftsgestaltung.

Denn den anskizzierten Perspektiven der Nutzung (3) stehen Erfordernisse ge-genüber, die sich eher als Leidensdruck in Stoßseufzern artikulieren: "Wenn Organisationen wüßten, was sie wissen!"; "Wir dürsten nach Wissen und ersaufen in einer Informationsflut!"

Dahinter steht mehr als ein Eingeständnis mangelnder Beherrschung der Information. Es droht ein "informationales Babylon":

Informationsüberflutung, Information Hiding, Gate Keeping, Informationsbedarfsstau, Überbetonung des Faktenwissens, gefilterte Nachrichten, unzulängliche Informationssicherheit, Softwarekrise, Informationskrise, logistischer Kollaps, mediale Überfütterung, unsinnige Werbung, Copyright-Versklavung, Kontextruinen, Bildungskrise, unmündige Bürger, Orientierungsverluste, Sinnkrise ....

Gerade diese Bedrohungen abzuwehren wäre eine Chance (7), die mit der Informatisierung und Telematisierung genutzt werden muß. Deshalb ist die Unzahl an drohenden und versteckten Risiken, die sich mit einer nicht kritisch hinterfragten Entwicklung ergeben könnten, offen und bewußt mit ins Kalkül zu ziehen.

Während die Wahrnehmung die Chancen der wirkungsoptimalen Nutzung vergrößert und das informationale Babylon verkleinert, wirkt der Eintritt von Risiken gerade umgekehrt. Die voraussichtliche Entwicklung hängt von Verhaltensweisen der Verantwortlichen und Beteiligten ab, die durch kontextuelle Konstellationen bestimmt werden und auf diese zurückwirken.

Wenn es nicht gelingt, eine neue Informationskultur auch gemeinsam im Umgang mit Wissen und Information zu entwickeln, werden die Informatisierung und Telematisierung das Dilemma des informationalen Babylon nur vergrößern.

Kontextuelle Konstellationen mit ihren vielfältigen Wirkungen und Interdependenzen müssen in ausreichendem Maße reflektiert werden, damit nicht Istzustände mit den Folgen ständiger Nachbesserungen und drohender Risiken unbesehen automatisiert werden, sondern damit Sollkonzeptionen mit wirkungsoptimaler Nutzung entwickelt und realisiert werden können. Derartige Konzeptionen lassen sich nur in einem erweiterten Kontext entwerfen.

2. Kontextuelle Konstellationen

Altruismus oder Eigeninteresse

Es ist alles andere als Altruismus, warum sich die reichen und entwickelten Industriegesellschaften gezwungen sehen, sich unter erweiterten und auch veränderten Fragestellungen mit der Zukunft auseinanderzusetzen. Es geht um mehr als die Überwindung der Rezession und die Bereinigung der Strukturkrise mit der damit verbundenen Sockelarbeitslosigkeit. Es geht um einen Wandel in den langen Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung vom vierten zum fünften Kondratieff-Zyklus, und es geht um den Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft. Und das bei drastisch veränderten Bedingungen im internationalen Wettbewerb und bei einer steigenden Weltbevölkerung.

Das Jahr 2015 - nicht als Zeitpunkt, sondern als zeitliche Orientierung für eine etwa 20jährige Vorausschau - ist aus mehreren Gründen deshalb eine markante Zäsur:

(1) Die Weltbevölkerung wächst bis dahin von heute rund 5 Milliarden Menschen auf rund 8 Milliarden Menschen an, die nicht nur versorgt sein wollen, sondern die alles daran setzen werden, sich ein lebenswertes Leben zu gestalten.

(2) Der Aufschwung des fünften Kondratieff-Zyklus wird aller Voraussicht nach, gemessen an den Erfahrungen der Vergangenheit, etwa zu diesem Zeitpunkt seinen Höhepunkt erreichen, aber nur dann, wenn in den reichen und entwickelten Industriegesellschaften geeignete unternehmerische Initiativen zur Entfaltung gekommen sind.

(3) Die notwendige Umstrukturierung der Arbeit bei weiterer Substitution von Handarbeit und einfacher Kopfarbeit durch Maschinen muß in den reichen und entwickelten Industriegesellschaften zur Aufrechterhaltung des Arbeitsvolumens dazu führen, daß rund 80 % der Beschäftigten mit komplexen bis hoch komplexen Informationsarbeiten ihren Lebensunterhalt verdienen (können).

Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt werden können, ist mit einem eingeschwungenen Zustand zu rechnen, der den Mitgliedern der reichen und entwikkelten Industriegesellschaften Wohlstand und Lebensqualität beschert (13).

Etwas völlig Neues wagen

"Die reichen und entwickelten Industriegesellschaften müssen etwas völlig Neues wagen. Sie müssen 'ihre Zukunft neu erfinden'. Darin liegt zugleich eine Chance für die globale Gemeinschaft:

deg. Probleme von heute sind Geschäftsmöglichkeiten für morgen.

deg. Die gesteigerte Komplexität dieser Geschäfte erfordert eine höhe Qualifikation.

deg. Lebenslanges Lernen für den Bürger als Arbeitnehmer und Mitglied der Gesellschaft ist angesagt.

deg. Die großen Organisationen müssen schneller lernen

deg. Information muß besser beherrscht werden, damit die Komplexität bewältigt werden kann.

deg. Es bedarf eines "geistigen" Aufbruchs mit einer langfristigen Orientierung, der es ermöglicht, auch unbequeme Wahrheiten zu verkraften.

Ziel muß sein, die "Produktivität des Geistes" zu fördern. Die Gesellschaft muß den "Wandel wollen"! Dann kann sie im internationalen Wettbewerb ihre komparativen Vorteile sichern und sich ihren wirtschaftlichen Wohlstand bewahren" (1).

Diese knapp gefaßte, programmatische Skizzierung gilt es, politisch und unternehmerisch in den nächsten fünf bis acht Jahren auszugestalten. Die unternehmerische Herausforderung läßt sich anhand der Entwicklung der Industriegesellschaft verdeutlichen.

Wirtschaftliche Entwicklung und fundamentale Innovationen

Vier lange Wellen mit einer Reichweite von jeweils ungefähr 45 bis 55 Jahren haben die Entwicklung der Industriegesellschaft bestimmt. Ein durch Innovationen getriebener Aufschwung mit einer Hochphase der Prosperität ging jeweils in eine Phase der Beruhigung über, der ein neuer Aufschwung folgte. Dieser Entwicklungsrhythmus ließ sich erst ex post anhand des verfügbaren empirischen Datenmaterials analysieren und bietet keine zeitliche Prognose für die voraussichtliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in der Zukunft. Erste Ansätze zu derartigen Überlegungen gehen auf den russischen Ökonomen Kondratieff zurück, dem zu Ehren Schumpeter das Phänomen der langen Wellen auch als Kondratieff-Zyklen bezeichnet hat.

Entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung im Kondratieff-Zyklus ist das unternehmerische Verhalten:

- In der ausklingenden Phase dominieren die inkrementalen Innovationen des Kleiner, Besser, Schneller und Billiger; investiertes Kapital wird mit der Ausschöpfung des Marktes zurückgewonnen.

- Die Aufschwungphase dagegen wird durch fundamentale Innovationen bestimmt, die einen hohen Kapitalbedarf haben.

Fundamentale Innovationen sind dadurch charakterisiert, daß die Vorstellungen zu Applikationen noch vage sind, daß die Märkte erst erschlossen werden müssen und daß auch die neuen Kombinationen an brauchbaren Technologien noch zu erproben sind.

Von Experten wird allgemein vermutet, daß der nächste Kondratieff-Zyklus - im hier interessierenden Ausschnitt - von den Faktoren "Wissen und Information" maßgeblich bestimmt sein wird. Der neue Innovationsschub hängt von unternehmerischen Verhaltensweisen ab. Diese gilt es zu stimulieren. Dazu bietet das Studium der abgelaufenen Zyklen durchaus interessante Hinweise (15).

3. Zur Praxis der wirkungsoptimalen Nutzung der Information

Information als Produktionsfaktor

Information wird im Vergleich zu den Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital als vierter Produktionsfaktor charakterisiert. Ob dieser Ansatz in der betriebswirtschaftlichen Theorie noch weiterträgt - es müßte beispielsweise ein Faktoreinkommen damit verbunden sein können - mag die Zukunft erweisen. Angesichts steigender Kosten für die Erschließung, die Aufbereitung und den Transfer von Informationen dürfte es jedoch von Interesse sein, den Gebrauch von Information als Kostenfaktor aus praktischer Sicht und ohne Anspruch auf eine endgültige Systematik näher zu analysieren.

Ziel ist die wirkungsoptimale Nutzung des Faktors "Information" in der Organisation. Das erfordert in der Praxis differenzierte Betrachtungen (2, 5). Eine dreifache Differenzierung des Produktionsfaktors Information als Wertschöpfungs-, Gestaltungs- und Operationsfaktor zeigt, daß recht unterschiedliche Strategien für die wirkungsoptimale Nutzung zu verfolgen sind.

Wenn jeder Faktorinterpretation eine eigenständige Qualität zuerkannt wird, dann lassen sich die unterschiedlichen Wirkungen von Information im informationsgeführten Unternehmen verdeutlichen und bewußt machen. Die Faktoren setzen auf unterschiedlichen Ebenen als strategische Hebel an:

(1)Information als Wertschöpfungsfaktor zielt darauf, "Wettbewerbsvorteile zu gewinnen". Es geht um die Entwicklung und Sicherung der Position des Unternehmens im Markt.

(2)Information als Gestaltungsfaktor wird genutzt, um "Kompetenz zu gewinnen". Das Unternehmen muß als sozio-technisches, ja sogar als sozio-mentales System gestaltet werden. Kultur und Werte, Ziele und Kompetenzen, Wissen und Verhaltensweisen, Organisationsstrukturen und Prozesse müssen in einem komplexen Wirkungsgefüge aufeinander bezogen und abgestimmt werden.

(3) Information als Produktionsfaktor im engeren Sinne (Operationsfaktor) wird eingesetzt, um "Aktionszeit zu gewinnen und die Abstimmung von Zeit, Kosten und Qualität in Synergie und nicht in polarisierender Konkurrenz zu bewirken." Information wird für die Disposition und Logistik und das Controlling benötigt.

Der Markt honoriert nur die Wertschöpfung im Nutzen für die Kunden; die harmonische Gestaltung der eigenen Unternehmung und Funktionsfähigkeit des operativen Bereichs zur Erstellung von Produkten und Leistungen sind selbstverständlich.

Auch die Ressource Information ist knapp, so paradox es angesichts der Informationsüberflutung klingen mag. Die Knappheit macht sich in mehrfacher Weise bemerkbar:

-Informationsüberflutung verschlingt Zeit, beansprucht investive Ressourcen und verknappt sogar den Raum.

-Mangel an Information braucht zu seiner Behebung ebenfalls Zeit und benötigt ebenfalls investive Ressourcen und auch am Raum sollte nicht gespart werden.

"Wenn Organisationen wüßten, was sie wissen", dann könnten sie Zeit sparen. Sie könnten sogar die Informationsüberflutung bändigen und die frei werdenden Ressourcen in die Behebung des Informationsmangels umlenken. Es rechnet sich sogar!

Die dreifache Faktorinterpretation von Information kann deshalb auch aufzeigen, daß die Akzente in den Organisationen zu den mit Information verbundenen Aktivitäten oft falsch gesetzt sind. In allen drei Bereichen geschieht entweder zu viel oder geschieht zu wenig oder es müßte ganz anders gemacht werden.

Information im Wertschöpfungsbereich.

Beispiele, in denen Information vorrangig zur Wertschöpfung genutzt wird, sind

Leistungsdifferenzierung durch informationale Methoden (Design, Qualität ....), Information als Teil von Produkten und Leistungen (Inbetriebnahme, Service), Schulung und Consulting für den Markt, Programme für eine Marktoffensive, Forschungs- und Grundlagenentwicklung, Patente und Erfindungen.

Ein Zuviel erfolgt in vielen Fällen durch sogenanntes Over-Engineering, so daß das Angebot im Markt bezüglich der Funktionalität größer ist als die Erfordernisse. Auf der anderen Seite wird die Nachfrage nicht ausgeschöpft, insbesondere in Richtung der Zufriedenstellung eines Kunden durch Lieferung von Systemen aus einer Hand.

Eine besondere Herausforderung ist die bedarfsgerechte Forschung und Grundlagenentwicklung, die viel stärker an den Erfordernissen der Zukunft von seiten des Marktes und der Benutzer orientiert sein muß und weniger einseitig durch den Technology-Push bestimmt werden sollte.

Ziel muß sein, möglichst viel an Information bedarfsgerecht für den Markt als Kundennutzen zu erschließen (Strategie der Leistungsdifferenzierung!) und gegen Entgelt umzusetzen.

Information im Gestaltungsbereich

Dazu gehören beispielsweise

Zielsetzungen und Strategien, Aufbau von Kernkompetenzen, Mitarbeiterqualifikation, Historie als Basis des Lernens, Führungssystem, Organisation (Struktur, Ablauf), das System des Controlling, Datenbanken, Standards, Normen, Vorschriften für Engineering, Projektierung und Produktion.

Der gezielte Aufbau und Ausbau von Kernkompetenzen ist oft nicht optimal entwickelt. Es erfolgt kein bewußtes Lernen. Kompetenz ergibt sich, wenn überhaupt, zufällig, statt daß sie bewußt angestrebt wird.

Wenn der Erfolg ausbleibt, neigen Unternehmen zur "schnellen Umorganisation", meist ohne Vorleistungen eines Investments in die Überprüfung der Zielsetzungen und Strategien. Umorganisationen erfordern viel Informationsarbeit, meist zuviel, weil alte Konflikte aufbrechen und es Zeit braucht, bis die Organisation wieder stabilisiert ist.

Die Führungs- und Gestaltungssysteme sind auf der anderen Seite nicht hinreichend transparent, eingeschränkt kommunikativ bis zur Undurchlässigkeit und behindern oder verhindern sogar die Entfaltung von Ansätzen der Selbstorganisation.

Ziel muß sein, die Information im Hinblick auf die optimale Gestaltung der Wertschöpfung für die Produkte und Leistungen und die Abwicklung im operativen Bereich zu nutzen und die Gefahren einer Beschäftigung der Gestaltung mit sich selbst (Stäbe!) zu minimieren.

Information im operativen Bereich

Dazu gehören

Engineering und Projektierungsarbeiten, Verarbeitung von Informationen im Rahmen der CIM-Konzepte, Angaben für Materialarten und Materialmengen sowie Arbeitszeiten in der Arbeitsvorbereitung (Stücklisten), Dispositionsangaben für die Produktion (Termine, Maschinenbelegung etc.), Informationen für die Logistik, Operatives Controlling und Verwaltung.

Auch hier ist das Zuviel, Zuwenig und Anders zu konstatieren.

Es wird zu viel Zeit in die sogenannten Abstimmprozesse investiert. Und da dies nicht mit optimalen Methoden geschieht, erbringt die Informationsarbeit nicht die notwendige Effektivität und Effizienz.

Ein Stiefkind hingegen ist die Logistik. Die Konfigurierung der Lieferungen und Leistungen für den Kunden leidet unter Informationsmangel, weil zu wenig in die Beherrschung der Information in diesen Bereich investiert wird.

Das operative Controlling hingegen, ein historisch gewachsenes Instrumentarium, neigt eher dazu, ausgreifend zu wuchern, Informationen an sich zu ziehen und Information bis zur Informationsüberflutung zu verteilen.

Ziel muß sein, die Regulierung des operativen Bereichs mit einem Minimum an Information unter Optimierung der Kosten abzuwickeln.

Konsequenzen

Natürlich handelt es sich nicht um bewußt herbeigeführte Dysfunktionalitäten. Die Ursachen liegen oft in geschichtlich gewachsenen Strukturen und personellen Verhaltensweisen.

Prozesse werden von der Basis her informatisiert, wobei für die Automatisierung zunächst die repetitiven Prozesse geeignet sind. Gleichzeitig entwickelt sich ein erweitertes Kontrollbedürfnis, das leicht übersteigert werden kann. Hier sind Organisationen wirklich noch ein Opfer eines überzogenen Taylorismus. Es wird vergessen, überholte Regelungen wieder abzuschaffen.

Die komplexen Informationsarbeiten in Bereichen des Management und Engineering sind viel schwieriger zu informatisieren und zu automatisieren. Aber die Widerstände sind Kraft der Intelligenz der Beteiligten auch viel größer. Das gewachsene Informationsverhalten - beispielsweise ausgeprägt in der Kleinigkeit des Verteilerunwesens - muß sich wandeln.

Im Bereich der komplexen Informationssysteme liegen die größten Herausforderungen für die informationsgeführten Unternehmen. Um daher die Vorteile einer besseren Nutzung der Information in der Wertschöpfung zu erlangen, muß zuvor, zumindest gleichzeitig, die Gestaltung des sozio-technischen Systems in Angriff genommen werden (9).

Es lohnt sich, das eigene Unternehmen als sozio-technisches System zu begreifen und unter der Mitwirkung vieler zu gestalten. Denn der Kunde ist auch ein sozio-technisches System. Die Organisationen können ihm mehr nutzen, wenn sie ihn durch Analyse der eigenen Organisation besser kennenlernen.

Eine derartige erste kleine Analyse ermöglicht praktisches Handeln. Und in vielen Organisationen dürften die Gewichte und Prioritäten zur Verbesserung der Beherrschung von Information noch falsch verteilt sein. Bevor mit Hilfe der Informationstechnik Lösungen versucht werden, sind in jedem Falle erst die organisatorischen und konzeptionellen Voraussetzungen zu schaffen.

4. Das Potential der Informatisierung und Telematisierung

Organisationen, die eine wirkungsoptimale Nutzung im Gebrauch von Informationen anstreben, müssen sich mit äußerst komplexen Konstellationen auseinandersetzen:

(1) Für den operativen Bereich sind verstärkte Rationalisierungsanstrengungen zu verfolgen. Mit Hilfe der Informatisierung und Telematisierung kommt es zwangsläufig auch zur Substitution von Arbeitsplätzen durch automatisierte Verfahren, und zwar sowohl im Bereich der materiellen/energetischen Prozesse als auch im Bereich der Informationsverarbeitung selbst. Erweiterte Anforderungen oder sogar neue Arbeitsplätze entstehen jedoch im Bereich von Steuerungs- und Überwachungsaufgaben.

(2) Für den Wertschöpfungsbereich sind Überlegungen anzustellen, wie durch den Mitverkauf von "Information" in Form sogenannter intelligenter Produkte und informationaler Serviceleistungen ein Mehr an Kundennutzen erzielt werden kann. Dazu bedarf es entsprechender Vorleistungen in der Forschung und Entwicklung. Es werden erweiterte und neuartige Qualifikationen benötigt. Die Arbeitsplätze sind für die Verarbeitung von komplexen Informationen auszurüsten.

(3) Beide Bestrebungen setzen voraus, daß die Organisation über einen leistungsfähigen Gestaltungsbereich verfügt, der umfassend und integriert in beiden Richtungen seine Dienste anbietet. Es handelt sich ebenfalls um Arbeitsplätze, an denen komplexe, kreative Informationsarbeiten zu verrichten sind.

Wichtig ist, daß die sich aus der Konstellation ergebende Entwicklung in mehrfacher Weise wirksam wird:

- Sie betrifft zwei große Bereiche, den Bereich der materiellen/energetischen Prozesse aller Art und den Bereich der begleitenden Informationsverarbeitung selbst.

- Es werden intelligente Komponenten, Produkte und Systeme und Serviceleistungen benötigt.

- Zielbereiche sind der operative Bereich, der Gestaltungsbereich und der Wertschöpfungsbereich.

In der arbeitsteiligen Organisation der Wirtschaft werden Unternehmen unter dem immer wichtiger werdenden Aspekt der wirkungsoptimalen Nutzung von Information sich in ihrer Wertschöpfung mit Produkten und Leistungen auf die vorgenannten Bereiche spezialisieren. Welche neuartigen Geschäftsfelder sich daraus im einzelnen ergeben, ist zu überlegen.

Für die einzelnen Bereiche zeichnen sich unterschiedliche Typen von Geschäftsmöglichkeiten sowohl für die materiell-energetischen Prozesse als auch für den Informationsbereich selbst ab:

- In der Wertschöpfungskette werden in verstärktem Umfange intelligente Komponenten und Produkte gehandelt und zu Systemlösungen integriert. Für Serviceleistungen entwickelt sich ein begleitender Informationenhandel.

- Die Systemlösungen werden in den Problemlösungsgeschäften eingesetzt, die der Gestaltung und der operativen Abwicklung gewidmet sind. Dabei ist ein Informationsverbund zu organisieren. Dazu gehören beispielsweise der Austausch von Meßwerten bei materiellen/energetischen Prozessen und der Informationsaustausch bei operativen Kooperationen.

- Im Gestaltungsbereich wird außerdem Gestaltungswissen gehandelt bis hin zu integrierten Programmen für das lebenslange Lernen.

Die Unternehmen müssen sowohl in ihrer Rolle als Lieferanten von intelligenten Produkten und Serviceleistungen als auch als Kunden viel Neues wagen. Sie müssen dazu ein Konzept für die Informatisierung und Telematisierung entwickeln.

Informatisierung und Telematisierung sind vergleichbar den mächtigen Impulsen der Industriegesellschaft wie der Mechanisierung, der Elektrifizierung, der Automatisierung und der Elektronisierung. So manches Unternehmen hat die Zeichen der Zeit bei diesen Übergängen zu spät erkannt. Auch diesmal ist Klarsicht und Weitsicht, Spürsinn und die Bereitschaft zu kooperativem Engagement nicht automatisch gegeben (14).

5. Die kontextuell orientierte Informationsverarbeitung

Sich den Herausforderungen stellen

Während die eher repetitiven Applikationen, die sich zu großen Teilen auch an den Endbenutzer wenden, schon mit mächtigen Impulsen durch geschäftliche Interessen und auch durch Förderung in nationalen und internationalen Programmen der Industrie- und Forschungspolitik versehen sind, herrscht im Bereich der innovativen Anwendungen eher Unsicherheit. Es mangelt an fundamentalen Vorstellungen für Applikationen. Schlagworte wie das informationsgeführte Unternehmen, das virtuelle Unternehmen und ähnliche müssen erst mit Leben gefüllt werden. Hier wird sich zeigen, wie wichtig es ist, neue Impulse aus einem breiten Kontext heraus zu gewinnen.

Die reichen und entwickelten Gesellschaften im Übergang zur Informationsgesellschaft müssen sich zunächst darauf besinnen, was sie im globalen Netzwerk aller Gesellschaften erreichen und bewirken wollen. Im Sinne der vorangegangenen Analyse ist zu fragen:

(1) Welche (wirtschaftliche) Wertschöpfung wollen die Informationsgesellschaften mit Hilfe der Information durch ihre Organisationen erbringen?

(2) Wie lassen sich die Organisationen unter besserer Nutzung des Faktors Information so gestalten, daß sie die als notwendig erkannten Informationsleistungen erbringen können?

Erst wenn Antworten zu diesen Fragen in einem breiten Kontext erarbeitet und erörtert werden, können die notwendigen Weichenstellungen versucht werden.

Eine Schlüsselstellung für die zukünftige und sinnvolle Nutzung der Informatisierung und Telematisierung nehmen die Arbeitsplätze für kreative und komplexe Informationsarbeiten ein, an denen Informationen in einem erweiterten Kontext zu erschließen, aufzubereiten und zu vermitteln sind. Die Aufrüstung und Hochrüstung dieser Arbeitsplätze erfordert neuartige, innovative Applikationen, mit denen die Geistesarbeit der Menschen unterstützt werden kann.

Die Betrachtungen müssen mehrere Ebenen umfassen: die Ebene der Organisation mit ihren Prozessen und dem Zusammenwirken von Gruppen mit ihren Arbeitsplätzen bis hin zur individuellen Informationsverarbeitung und die Leistungen der Organisation in Kooperation mit anderen im Rahmen der nationalen Gesellschaft, die wiederum Teil eines globalen Netzwerkes ist.

Verhaltensweisen von Menschen und in Gruppen und in Organisationen

In diesen kontextuellen Konstellationen der sachlichen Erfordernisse auf den einzelnen Betrachtungsebenen wirken gleichzeitig eher subjektiv geprägte Verhaltensweisen, die ausgehend vom Individuum auch das Verhalten von Gruppen und Organisationen bestimmen und umgekehrt auf das Individuum zurückwirken. Sie lassen sich schwerpunktartig als Mentalverhalten, Informationsverhalten und Innovationsverhalten charakterisieren (10):

- Das Mentalverhalten wird durch innere Dispositionen bestimmt, die nicht allein rationaler Art sind. Im Gegenteil: Das Unterbewußte und Unbewußte spielt als Quelle der Emotionen, des Gefühls, auch der Kreativität für das Wollen, Denken und Handeln eine entscheidende Rolle.

Die Verhaltensweise wird durch Kontexte bestimmt, d.h. die Beziehungen, die der Geist als Netz zu den vielfältig erlangten Wissensbausteinen und informationalen Impressionen aufbaut. Die Stärken dieses Mentalverhaltens sind positiv zu stimulieren.

- Das Informationsverhalten, das sich dann insbesondere in den Interaktionen äußert und das auch durch diese geprägt wird, beruht auf akkumulierten Erfahrungen. Eine wesentliche Bestimmungskomponente ist der Umgang mit Komplexität.

Normalerweise wird bei der Lösung von Problem- und Aufgabenstellungen die Komplexität schrittweise reduziert. Dieses Verfahren versagt bei zunehmender Komplexität der Aufgabenstellungen, weil sich die Schnittstellen, sozusagen die Kontexte, bei der Zerlegung multiplikativ erhöhen.

Es gibt denk- und arbeitsmethodische Ansätze, die eine vorschnelle Reduktion von Komplexität unnötig machen und die Bearbeitung auch umfangender Kontexte erlauben. Diese Methoden sind weiter auszubauen, anzureichern und durch intelligente Applikationensysteme zu unterstützen.

- Das Innovationsverhalten wird durch Erfahrungen mit Änderungen und dem Wandel von Konstellationen geprägt, auf die Betroffene mit einem gesunden Mißtrauen reagieren. Dieses ist ein evolutionärer Schutz: "Die Hypothese kann anstelle ihres Trägers sterben!"

Zu den persönlichen Besorgnissen, Nachteile zu erleiden, mischen sich aber auch egoistische Interessenlagen der Vorteilsbehauptung, die mehr oder weniger bewußt reflektiert werden und wenn, dann mit scheinbar rationalen Argumenten vertreten werden.

Diese Verhaltensweise wird durch die Furcht vor Komplexität verstärkt. Auf diese Weise entstehen Sachzwangargumentationen, die außer in echten Konflikten eher auf Denkzwängen beruhen. Es werden Barrieren gegen Innovationen errichtet. Es ergeben sich Akzeptanzprobleme.

Die skizzierten gesellschaftlichen Erfordernisse und die aufgezeigten sozialen Verhaltensweisen der Mitglieder der Gesellschaft auf den einzelnen Betrachtungsebenen vom Individuum über die Gruppe bis hin zur Organisation bilden in ihrer ganzen Spannweite einen Kontext, der den meisten Unternehmen und Institutionen fremd ist, vielleicht sogar eher störend erscheint, obwohl durch diesen Kontext die Effektivität der Zukunftsgestaltung maßgebend bestimmt werden wird. Es ist viel Aufklärungsarbeit bei den Verantwortlichen und Beteiligten zu leisten, damit sie ihre langfristigen Chancen wahrnehmen können und nicht aus kurzfristigen Erwägungen heraus verspielen.

Ein kleines Beispiel - eine gewaltige Komplexität

Eine Vermutung ist, daß 80 % und mehr an Informationen, die für die Lösung einer Problem- und Aufgabenstellung benötigt werden, bereits vorhanden sind. Sie liegen nur nicht zugriffsbereit und nicht in entsprechend aufbereiteter Form vor. Erschwerend kommt noch hinzu, daß selbst Vorhandenes schwer vermittelbar ist. Mit dem weltweiten Zugriff auf Informationen in mehreren tausend Datenbanken allein ist es daher nicht getan.

Die Aufgabenstellungen für einen informationstechnischen Support erscheinen klar und einfach:

(1) Vorhandenes erschließen und zur Verwendung und Vermittlung aufbereiten

(2) die Erschließung und Aufbereitung des noch nicht Vorhandenen unterstützen und fördern

(3) die Vermittlung des Wissens zu einer Problem- und Aufgabenstellung unterstützen und fördern.

Etwaige Lösungen müssen jedoch die skizzierten Verhaltensweisen als Mentalverhalten, Informationsverhalten und Innovationsverhalten berücksichtigen.

Es ist nicht nur Objektwissen im engeren Sinne zu erschließen, aufzubereiten und zu vermitteln, sondern es muß gleichzeitig und in viel größerem Umfange Kontextwissen bereitgestellt und bereitgehalten, aktiviert und angereichert werden. Dazu gehören Orientierungswissen, Ordnungswissen und Metawissen vielfältiger Art.

In der Kette "Erschließung - Aufbereitung - Vermittlung" kommt dem scheinbaren Schlußglied "Vermittlung" eine entscheidende Rolle zu, weil auch die Notwendigkeit der Erschließung und Aufbereitung vermittelt werden muß. Diese in der Kommunikation zwischen Beteiligten zu leistende Informationsarbeit umfaßt Aktivitäten vielfältiger Art:

Vitalisierung von Informationsnachfrage, Artikulation von Informationsnachfrage, bedarfsgerechte Versorgung, Verarbeitung und Anreicherung des Erlangten zu einer informationalen Wertschöpfung, Reflexion des Erlangten, Vermittlung des Vorhandenen und Neuen.

Die scheinbar gute, in der Größenordnung ja durchaus richtige Nachricht, daß 80 % des Objektwissens vorhanden ist, relativiert sich, wenn die Prozeßaktivitäten betrachtet werden. Und sie relativiert sich noch einmal, wenn bedacht wird, daß Objektwissen in seiner Vermittlung in Kontextwissen als Orientierungs-, Ordnungs- und Metawissen eingebettet werden muß.

Während Objektwissen als Rohstoff in Datenbanken eher im Überfluß vorhanden ist, fehlt es an anschaulich aufbereitetem und integriert repräsentierbarem Kontextwissen.

Jedes Individuum verfügt über einen anderen Kontext; jede Gruppe muß sich für eine Kooperation erst einen gemeinsamen Kontext erarbeiten und erst aus der Vernetzung der Kontexte entsteht in einer Organisation eine Informationskultur. Sie wird eher durch ungeschriebene Gesetze als durch Vorschriften und Regelungen repräsentiert, was durch die Androhung eines Dienstes nach Vorschrift leicht zu beweisen ist.

Der Informatisierung und Telematisierung sind daher von seiten der kontextuellen Konstellation Grenzen gesetzt, was nicht heißt, daß diese Grenzen nicht in Richtung wirkungsoptimaler Nutzung verschoben werden könnten. Damit ergeben sich aber erweiterte und auch neuartige Akzentsetzungen für den informationstechnischen Support am Arbeitsplatz und für die informationalen Produkte und Leistungen der Wertschöpfung.

6. Informationswissenschaft: Wer schafft das Fundament?

Bedarf an Theorie

Mit den Skizzen zur "Informationslandschaft" kann nur versucht werden, das Problembewußtsein zu aktivieren und zu erweitern. Eines ist wohl deutlich geworden: Die bessere Nutzung und Beherrschung von Information erfordert nicht allein technologisch orientierte Lösungsanstrengungen. Im Gegenteil: Es mangelt nicht an technologischem Lösungspotential. Es mangelt an theoretischer Durchdringung der sozio-technischen Wirkzusammenhänge, zumindest in der Umsetzung und Anwendung auf die Bereiche der Informatisierung und Telematisierung und den sich ergebenden Aus- und Weiterbildungskonzepten.

Die angebotene Problematisierung reizt bewußt zu Fragen und vermag Lösungsansätze allenfalls anzudeuten. Zunächst kommt es darauf an, die Herausforderungen der Praxis zu verdeutlichen. Sie repräsentieren Erfordernisse für die Theorie. Ganz pointiert wird gefragt: Was sind die Maxwell-Gleichungen der Informatik?

Anknüpfend an den Erfahrungen der Industriegesellschaft mit dem engen Verbund von Wissenschaft und Technik werden deshalb hohe Erwartungen gehegt, daß eine wissenschaftlich-theoretische Fundierung von hohem Nutzen sein würde.

Die wissenschaftlichen Disziplinen im Umfeld "Information" werden im Zuge der weiteren Entwicklung zur Informationsgesellschaft mit Erfordernissen konfrontiert werden, die sich heute erst in Umrissen abzeichnen und/oder erst teilweise bewußt sind. Ein Maßstab bildet das Verständnis von der Industriegesellschaft, wie es sich in der reifen Phase dieser Gesellschaft abzeichnet. Das "Vor-Bild" der Industriegesellschaft bietet Ansporn und mahnt zugleich zur Bescheidenheit.

Ein nüchterner Befund

Und hier ist die Ausgangslage im Widerstreit von Anspruch und Wirklichkeit eher als paradox zu charakterisieren:

- Die Entwicklung der Industriegesellschaft in den letzten 200 Jahren wurde durch die wissenschaftsbasierten Industrien getrieben. Die immer bessere Beherrschung von Materie und Energie wurde durch bahnbrechende Erfindungen und fundamentale Theorien gefördert. Die wissenschaftsbasierte Industrie ist auf Erkenntnisfortschritt für den technischen Fortschritt angewiesen. Das galt und gilt - auch in Zukunft - insbesondere für Industrien, die die Hochtechnologien für Problemlösungen nutzen und durch die Nutzung neue Dimensionen der Verwendung erschließen.

- Für die Entwicklung der Informationsgesellschaft zeichnet sich ein vergleichbares integriertes Fundament für sich gegenseitig befruchtende Theorien und Erfindungen noch nicht ab.

Das Phänomen "Information", dessen Name genutzt wird, die gesellschaftliche Entwicklung zu charakterisieren, ist in der Theorie trotz einer Überfülle an Material nicht hinreichend erforscht und wird in der Praxis trotz des täglichen Umgangs nur mangelhaft beherrscht. Vieles wird bereits geboten. Es harrt jedoch der interdisziplinären Integration.

Darin dürfte sich die Anfangsphase der Informationsgesellschaft nicht von der Anfangsphase der Industriegesellschaft unterscheiden. Historische Vergleichsbetrachtungen könnten aufschlußreich sein und auch zur Bescheidenheit mahnen. Eine verdienstvolle Bestandsaufnahme würde herausarbeiten können, was wir alles nicht wissen. Das beginnt mit nicht eindeutigen Definitionen zu den Phänomenen "Information und Wissen", die in unterschiedlichen disziplinären Betrachtungen wechselweise zur gegenseitigen Definition genutzt werden.

Vereinfachend in einer groben Skizzierung läßt sich im Vergleich mit der Industriegesellschaft vermuten, daß sich die Informationsgesellschaft in ihrem Kenntnisstand erst im Zeitalter der "Dampfmaschine" befindet. Erfindungen und Theorien für den Bereich der Information, vergleichbar den fundamentalen Erkenntnissen der Thermodynamik, Elektrotechnik, Chemie, Nachrichtentechnik und Computertechnik, Quantenmechanik und Quantendynamik stehen also eigentlich noch aus.

Die Praxis wird in dem üblichen evolutionären Prozeß die Herausforderungen der Informatisierung und Telematisierung bestmöglich für ihre Zwecke umsetzen (6), auch wenn noch kein integriertes und gesichertes theoretisches Fundament für das Phänomen Information vorliegt. Es fragt sich nur, ob es ihr gelingt, das informationale Babylon zu vermindern, was gerade mit Hilfe der neuen Techniken möglich wäre, oder ob nicht ungewollt durch die Nutzung der Technik neue Dysfunktionalitäten erzeugt werden, die das informationale Babylon noch vergrößern, was sich leider nicht ausschließen läßt.

Erfordernisse in einem erweiterten Kontext

Aller Voraussicht nach wird und muß sich angesichts der Komplexität der Problem- und Aufgabenstellungen der Trend zu wissenschaftsbasierten Industrien in der Informationsgesellschaft fortsetzen. Das bedeutet dann auch, daß sich die Informationsindustrie nur als wissenschaftsbasierte Industrie entfalten und behaupten kann.

Das wissenschaftliche Fundament für die Informationsindustrie muß in einem Kontext erarbeitet werden, der weit über technologische und bisherige informatische Betrachtungen hinausgeht. Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Durchdringung werden mentale Verhaltenweisen des Menschen stehen. Der Erkenntnisfortschritt ist eher in methodologischen und nicht nur in technologischen Fortschritt umzusetzen. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen, mit deren Anführung die Ergebnisse der Betrachtung auch noch einmal zusammengefaßt werden:

(1) Bei zunehmender Automatisierung im Informationsbereich und der damit verbundenen Substitution menschlicher Arbeit durch Informationsautomaten sind an den Informationsarbeitsplätzen durch den Menschen immer komplexere Informationsarbeiten zu erbringen.

Diese Informationsarbeiten sind hinsichtlich der informationalen Prozesse und hinsichtlich der Wissensprodukte zu strukturieren, damit die informationale Wertschöpfung des Menschen oder einer Gruppe von Menschen durch die Informationstechnik sinnvoll und wirkungsvoll unterstützt werden kann (Modellierung, Informationsprodukte, Prozeßdynamik).

(2) Es kommt nicht allein darauf an, den Rohstoff Wissen zu erschließen und zu vermitteln, sondern es sind neuartige Halb- und Fertigfabrikate zu erarbeiten und zum Einsatz zu bringen: Neue Typen immaterieller Waren sind zu erfinden! Es geht um die Gestaltung von (neuartigen) Informationsprodukten zur Repräsentation von Kontextwissen und Objektwissen.

(3) Maßgeblich sind die mentalen Wirkungen auf und für den Menschen, die durch Informationen im Zuge der Verarbeitungsprozesse und in Form der erzeugten intelligenten Produkte und Informationsprodukte in unterschiedlichen Konstellationen der Interaktion ausgelöst werden (Objektwissen in Kontextwissen integrieren).

(4) Für die weitere Automatisierung informationaler Prozesse bietet die menschliche Informationsverarbeitung ein "Vor-Bild" (4, 11), das in Analogie zur Bionik genutzt werden kann (mentalischer Ansatz). Es geht um die adäquate Repräsentation von Wissen, die Standardisierung der Aufbereitung und die Organisation der Speicherung von Informationsvorräten aus unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen im Hinblick auf eine unmittelbare Nutzung und/oder Weiterverwendung (Halb- und Fertigfabrikate)

Die zu untersuchenden Ansätze (12) gehen weit über die Mensch-Maschine-Schnittstelle hinaus, die nur eine, wenn auch wichtige Facette im Betrachtungsfeld bildet. Und um gleich einen ganz weiten Kontext zu charakterisieren: Nach der Erforschung des ganz Großen und des ganz Kleinen im Bereich der Materie und Energie liegt vor den Wissenschaftlern der unendlich große Raum des Mentalen. Er ist zum Nutzen für die Menschheit zu erforschen (Infonautik?).

Die Frage ist, ob die Informatik als wissenschaftliche Disziplin ein erweitertes Paradigma zum Phänomen "Information" entwickeln und umsetzen kann oder ob erst eine neue (!) Informationswissenschaft die theoretischen Grundlagen zum Phänomen Information integrieren und für eine allgemeine Orientierung in Theorie und Praxis der Informatisierung und Telematisierung zur Verfügung stellen kann.

Quellen und weiterführende Hinweise

(1) Siemens AG: Prospekt: Städte erleben und Wissen gewinnen. Skizzen zu einem Leitbild für die Informationsindustrie. Städte des Wissens als Stätten der Begegnung. München 1994

(2) Schwärtzel, Heinz; Morgenbrod, Horst: Informations- und Kommunikationstechnik verändern den Büroarbeitsplatz, in: data report 13/1978

(3) Schwärtzel, Heinz: Nutzungspotentiale neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Innsbruck 1988

(4) Schwärtzel, Heinz: Intelligenz ohne Bewußtsein, in: Siemens Magazin 1989

(5) Schwärtzel, Heinz; Peuckert, Heribert: Das intelligente Büro von morgen, in: bit 13/89

(6) Schwärtzel, Heinz: Künstliche Realität zwischen Hoffnung und Realität. Köln 1989

(7) Schwärtzel, Heinz: Informationstechnik - Herausforderung und Chance. Hamburg 1990

(8) Schwärtzel, Heinz: Building the Information Marketplace - The European View. MIT, Cambridge 1991

(9) Volkmann, Helmut: Der Strategische Abakus. Leitidee und Instrumentalansatz für die Nutzung und Beherrschung der Kommunikations- und Informationstechnik in sozio-technischen Systemen. München 1984

(10) Volkmann, Helmut: Der Informationsmarkt. Theoretische Ansätze zur Zweckprogrammierung, Akzeptanz und Wirkung einer Novität im Innovationssystem der Organisationen. München 1985

(11) Volkmann, Helmut: Denkmaschinen. Notwendigkeit und Chancen der Forschung über wissensbereitstellende und -verarbeitende Systeme sowie sozio-mentale Aspekte, in: Siemens-Zeitschrift Special Forschung und Entwicklung. München 1990

(12) Volkmann, Helmut: menschen denken maschinen denken lassen, in: Frese et al (Hrsg.): Software für die Arbeit von morgen. Berlin, Heidelberg etc. 1991

(13) Volkmann, Helmut: Mehr als Informationsgesellschaft - Wagnis-Ideen für eine aktive Zukunftsgestaltung, in: gdi-impuls. Rüschlikon 2/91

(14) Volkmann, Helmut: Die Zukunft unternehmen! Unternehmenspolitik: Visionäre Führung und radikale Innovationen, in: Dana Schuppert (Hrsg.): Kompetenz zur Führung. Was Führungspersönlichkeiten auszeichnet. Wiesbaden 1993

(15) Volkmann, Helmut: Gefragt sind Visionen, keine Ideologien, in: Süddeutsche Zeitung vom 9./10.93, S. 65

Prof. Dr. Heinz Schwärtzel, Dr. Helmut Volkmann, Siemens AG, 81730 München



[Artikel und Ausätze]