Gefragt sind Visionen, keine Ideologien

Helmut Volkmann
Von der sozialen zur solidarischen Marktwirtschaft
Süddeutsche Zeitung Nr. 234 / Sa./So., 9./10.10.1993, S. 65 / Folge 4


Die Ansprüche herunterzuschrauben ist langfristig eine richtungsweisende Perspektive

"Eines steht felsenfest: Dies ist die Zeit, in der die Zukunft gestaltet wird, eben weil sich alles im Fluß befindet. Es ist die Zeit zum Handeln" (Peter F. Drucker).

So sarkastisch es klingen mag: Die Probleme von heute sind Geschäftsmöglichkeiten für morgen: Problemlösungsgeschäfte! Sie liegen in vielen gesellschaftlichen und unternehmerischen Bedarfsfeldern:

ressourcenschonende Produkte und Recycling, Energieersparnis, umweltschonender Verkehr, sozialverträgliche Arbeit und Automation, gesundes Bauen und Wohnen, Gesundheitsvorsorge, Sicherheit für den Bürger, komfortable Kommunikation, schlanke Organisation und gesicherte Information, sinnvermittelnde Bildung und Kultur, mußevolle Freizeit.

Allerdings müssen, um dieses Geschäft zu beleben und in größerem Umfange zu erschließen, einige wesentliche Voraussetzungen erfüllt werden:

(1) Es müssen echte Problemlösungen angestrebt werden, d.h. solche, die Probleme lösen und nicht anderweitig Störungen produzieren, die sich ihrerseits zu weiteren Problemen akkumulieren. Eine Konsequenz ist: Die Gesellschaft muß "gesellschaftlich richtig rechnen!"

(2) Es muß die "ungeschminkte Wahrheit" für jedermann transparent gemacht werden, damit sich jeder einzelne bei Entscheidungen im Sinne "echter Problemlösungen" orientieren kann und sich durch lebenslanges Lernen für die aktive Mitwirkung ertüchtigt.

(3) Es müssen die Herausforderungen der Zukunft für jedermann begreifbar offengelegt und verdeutlicht werden, damit der Handlungsbedarf erkennbar wird und die Handlungsnotwendigkeiten priorisiert werden können.

Im Zeitalter der Kommunikations-, Informations- und Medientechnologien sind gute Bedingungen vorhanden, diese Forderungen nach erweiterter Information und Aufklärung zu erfüllen.

Es fehlt nicht an Analysen zur Lage und es gibt auch Projektionen zu zukünftigen Entwicklungen. Die Gesellschaft weiß um ihre Probleme und sie hat genug Wissen, kleine und große Aufgaben der globalen Gemeinschaft zu lösen. Die Gesellschaft weiß sogar, spürt zumindestens, daß Handlungsdefizite bestehen und daß es so nicht weitergehen kann. Die Gesellschaft ist eine Problemgesellschaft; sie kann und muß eine Problemlösungsgesellschaft werden.

Im Wandel die Chancen erspähen

Eines der gravierenden gesellschaftlichen Probleme, nicht einmal das größte, ist die "Regulierung und Verteilung der Arbeit" -nicht etwa nur die Arbeitslosigkeit.

Nicht arbeiten müssen ist eigentlich ein Segen. Es ist der Traum von der Muße, dem, bis ins Altertum zurückgehend, früher nur bestimmte Schichten nachgehen konnten. Nicht arbeiten müssen ist auch Zeit zum Lernen!

Nicht arbeiten dürfen, obwohl man könnte, es will oder sogar muß, ist für die Betroffenen ein hartes Los. Das zweite scheint die Herausforderung unserer Zeit zu sein. Dabei ist - wie vielfältig belegt - Bedarf an Arbeit genug da. Scheinbar fehlt es an Geld, und so kommt es zu Gegenargumenten:"Das können wir uns nicht leisten! Das ist nicht finanzierbar!" Aber ist das wirklich so?

Arbeit und Wertschöpfung werden in den nächsten 20 Jahren beim Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft einem gravierenden Strukturwandel unterliegen:

- Die Automatisierung der Industriearbeit nimmt zu und wird durch die Informatisierung noch verstärkt werden. Die Arbeitsplätze im industriellen Sektor werden sich verringern.

- Die Informationsarbeit, die die Informationsgesellschaft vorrangig prägt und "neue Arbeit" bietet, ist sicherlich ein Wachstumsfaktor, wird aber ebenfalls noch weiter informatisiert.

Informatisierung ist ein Megatrend vergleichbar der Mechanisierung, Elektrifizierung, Automatisierung und Elektronisierung. Jahr für Jahr sind es kleine Raten der Veränderung, die sich über 20 Jahre jedoch zu einem gewaltigen Strukturwandel kumulieren.

Der Strukturwandel durch Automatisierung und Informatisierung setzt bei der simpleren Arbeit - ob Handarbeit oder Kopfarbeit - an und erfordert zugleich eine höhere Qualifikation in der Ausführung der verbleibenden Arbeit. Letzteres ist durchaus eine Chance auf dem Wege zur Problemlösungsgesellschaft: Mit einer höheren Qualifikation lassen sich noch viel komplexere Aufgaben, auch in Bereichen notwendiger sozialer Innovationen, effektiver und effizienter lösen. Qualifikation ist zumindest ein notwendiger Schritt auf dem Wege, "neue Märkte", "neue Produkte und Leistungen" und damit auch "neue Arbeit" zu schaffen. Statt durch Arbeitslosigkeit zur Muße verurteilt zu sein, bietet es sich daher an, das "nicht arbeiten müssen" in ein "lernen können" zu überführen. Das Modell einer an Zukunftsfragen engagierten Gesellschaft könnte sogar sein, den Anteil des lebenslangen Lernens an der Zeitverwendung im Vergleich zur Schaffenszeit und Freizeit bewußt zu steigern.

Die These ist: Zeitinvestment in Lernen schafft mehr Arbeitsplätze als Zeitverbrauch durch Freizeitbeschäftigung. Es müssen Ideen gewagt werden! Das Modell des verstärkten Lernens macht Sinn, wenn es gelingt, die "Früchte des Lernens" im internationalen Wettbewerb zu vermarkten. So gesehen ist der Weg des Lernens das erste Ziel.

Was aktives Engagement für die Zukunft angeht, so werden mit Recht Zukunftskonzepte angemahnt - mehr noch, Visionen verlangt. Es fehlt an Visionen. Es herrscht Mangel an Zukunftskonzepten. Diesem Faktum sollten Kritiker durchaus mit Verständnis begegnen. Von scheinbar großen Visionen sind die Gesellschaften zu oft verführt worden. In Wirklichkeit waren es gar keine Visionen, sondern Ideologien.

Eine "Vision ist ein klares und plastisches Bild von der Zukunft, die man erschaffen möchte. Sie ist ein Ziel, das man sich mit seinem Vorstellungsvermögen so anschaulich ausgemalt hat, daß es einem deutlich vor Augen steht" (Bonson).

Aber eine Vision läßt sich nicht setzen. Sie muß in einem Prozeß, an dem sich viele beteiligen können, keimen und reifen. Zwischen Beteiligten und Betroffenen ist auf vielfältige Weise Begegnung zu organisieren. Das ist auch eine Frage der "Kommunikations- und Informationskultur."Zu Beginn des Prozesses können allenfalls Bausteine, die zur Vision beitragen, skizziert und Richtungen gewiesen werden.

Ein Richtungsweiser ist, daß innerhalb der nächsten 20 Jahre drei Milliarden Menschen mehr als heute für ihren Lebensunterhalt sorgen können müssen. Und wir können davon ausgehen, daß Findigkeit und Überlebenswillen dieser Menschen alles mobilisieren werden, um das Erfordernis für sich selbst zu erfüllen.

Natürlich taucht dann die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit auf. Die Wirtschaftskraft einer Gesellschaft A beruht darauf, etwas "relativ" besser zu können als andere. Dieses "relativ" besagt, daß eine andere Wirtschaft B zwar auch solche Leistungen erbringen kann, aber bei knappen Ressourcen und sogar billigeren Löhnen ist es für diese Wirtschaft B noch vorteilhafter, andere Güter für ihren Bedarf und den Dritter herzustellen und eine benötigte Leistung auch zu höheren Kosten, als die eigenen wären, zu beziehen. Diese volkswirtschaftliche Lehre von den komparativen Vorteilen gilt es in zweifacher Richtung zu beherzigen:

- Erschließung von Märkten, in denen die eigene Gesellschaft komparative Vorteile erringen und weiterentwickeln kann

- Aufgabe von Produktionen, die keine komparativen Vorteile mehr bieten.

Das ist bitter, aber notwendig. Und das muß als ein laufender, dynamischer Prozeß organisiert werden.Ein Kostenwettbewerb auf absoluter Basis bei einem Lohngefälle von Faktor 20 und mehr ist von den entwickelten Industriegesellschaften in einem freien Wettbewerb überhaupt nicht durchzustehen.

Ein Schlüssel für den Wandel in der eigenen Gesellschaft ist die Aufklärung. "Der Bürger ist viel vernünftiger, als ihm unterstellt wird" - zumindest lohnt es, auf diese Karte zu setzen. Es geht um Aufklärung im Hinblick auf zu wandelnde, durchaus vorteilhafte Ansprüche:

- Echte Problemlösungen, die Probleme lösen und keine neuen produzieren, sparen unnötigen Reparaturbetrieb.

- Produkte, Systeme und Anlagen mit langer Lebensdauer schonen Ressourcen.

- Konsumverzicht in vielen Bereichen der Gesellschaft (Rüstung, Overhead in der Verwaltung, auch persönliche Bedürfnisse) zu Gunsten investiver Vorhaben, u.a. für die berufliche Qualifikation, schaffen Freiraum für ein neues Engagement.

Dieser Wandel im Anspruchsniveau ist scheinbar mit Opfern verbunden, in Wirklichkeit bieten sich langfristig richtungsweisende Perspektiven:

- Die eigene Gesellschaft bewegt sich in Richtung der Ressourcenminimierung und Umweltschonung.

- Durch die Vorbildfunktion kann die Nachfrage nach echten Problemlösungen im internationalen Wettbewerb stimuliert werden.

Das heißt: In dem Maße, wie es gelingt, die eigene Gesellschaft vorbildlich im Hinblick auf die langfristigen Erfordernisse auszugestalten, wachsen die eigenen komparativen Vorteile. "Wandel wollen" erfordert, in einem weiten Kontext zu denken. Es bedarf vieler Begegnungen!

Die zukünftige Gesellschaft muß etwas völlig Neues wagen, wenn sie den Wechsel vom vierten zum fünften Kondratieff-Zyklus und den Übergang von der Industriegesellschaft zur Informations- und Wissensgesellschaft meistern will. Sie kann aus der Vergangenheit lernen: Das noch unbekannte Neue ergibt sich aus der Neukombination des Vorhandenen unter Zuführung neuer, gewagter Ideen.

Eine Analyse der bisher vier identifizierbaren Kondratieff-Zyklen zeigt, daß alle Zyklen durch eine vergleichbar charakteristische Konstellation geprägt wurden, die den Beteiligten und Betroffenen auch bewußt wurde und zur Aufbruchstimmung beigetragen hat:

- Es waren jeweils einige wenige neue Applikationen, die im Vergleich zum vorangegangenen Zyklus in der Breitenwirkung ein fundamentales Bedürfnis befriedigt und den gesellschaftlichen Fortschritt geprägt haben (Dampfmaschine, Eisenbahn, Beleuchtung, Kino, Telefon, Auto, Fernsehen, Computer, Raketen).

- Die jeweils breite Anwendung war mit der Schaffung eines flächendeckenden Netzes verbunden und erforderte ein erhebliches unternehmerisches Investment (Eisenbahnnetze, Energieverteilungsnetze, Autobahnnetze, Kommunikationsnetze).

- Die genutzte Technologiekombination ging teilweise auf Erfindungen älteren Datums zurück, war also zum Zeitpunkt des Aufschwungs schon bekannt.

Unter der Annahme, daß eine derartige Konstellation auch im fünften Kondratieff-Zyklus prägend sein wird, lassen sich Anhaltspunkte gewinnen, die die notwendigen fundamentalen Innovationen des fünften Kondratieff-Zyklus bestimmen helfen. Um es noch einmal einzugrenzen: Die prägenden Applikationen werden neu, d.h. zu Beginn des Zyklus noch gar nicht vorstellbar sein. Das flächendeckende Netz wird ein neues Netz sein, das auf den bisherigen Netzen aufbaut, während die Technologiekombination eher im Bekannten wurzelt.

Die Vermutung ist, daß die Applikationen Bedürfnisse befriedigen, die im Kontext "Wandel wollen" zu suchen sind: komplexe Verfahren der Wissensverarbeitung im Dienste von Erfordernissen wie

lebenslanges Lernen, gesellschaftlich richtig rechnen, sustainable development, Aufklärung, "ungeschminkte Wahrheit", Konsumverzicht, komparative Vorteile, langlebige Produkte, Kommunikationskultur, sozialer Friede,

Die Technologien stehen im Dienste der Beherrschung von Information zur Bewältigung von Komplexität. Veranschaulichung mit Ästhetik ist gefragt (ein Bild sagt mehr als tausend Worte), und die Wirkungen auf den Benutzer müssen die Informationsverarbeitung fördern. Trends in der medialen Kunst zeigen interessante Ansätze.

Aber erst die Kombination aller drei Faktoren der Konstellation wird den Durchbruch bringen. Ideen müssen gewagt werden. Vielleicht sollte die folgende fiktive Meldung ernst genommen werden:

Auf den Tag genau wie geplant ist rechtzeitig zum Jahrtausendwechsel am 31. Dezember 1999, 9,00 Uhr, die unter Führung des Alpha-Konsortiums mit einem Kapital von rund 550 Mill. Dollar erstellte "Knowledge City" in einem Vergnügungsareal im Pazifischen Raum nach nur dreijähriger Bauzeit ans Netz der Breitbandkommunikation gegangen. Die Betreiber sind optimistisch, in schon weiteren drei Jahren eine vollständige Refinanzierung zu erlangen.

Die in der Meldung versteckte Wagnisidee sucht Wagniskapital. Sie ist durchaus keine Utopie (mehr), sondern eher schon eine sich konkretisierende Vision, die eine ganze Reihe von beobachtbaren Entwicklungen zu einem praktikablen Leitbild integriert.

Eine solche Wissensstadt kann als Miniatur, vergleichbar einer größeren Ausstellung, gebaut werden oder als künstliche Realität mit Hilfe von Medien- und Computertech-nologien im Arbeitszimmer und auch im Wohnraum realisiert und auch in Kombination beider Realitäten verwirklicht werden. Entscheidend ist, daß Wissensstädte als Stätten lebenslangen Lernens gestaltet werden und die Begegnung zwischen Beteiligten und Betroffenen ermöglichen. Die technologischen Mittel sind jedenfalls weitgehend vorhanden, und weitere technische Potentiale wie die Holographie können auf Sicht integriert werden.

Die "Städte des Wissens" als Stätten der Begegnung repräsentieren ein Leitbild, in dem vorhandene Lösungsansätze neu kombiniert und in dessen Rahmen die noch unbekannten Applikationen betrieben werden können. Das Leitbild ist geeignet, Selbstorganisation zu fördern. Gründer und Gestalter können aktiv werden, Wissenserschließung, Wissensaufbereitung und Wissenstransfer läßt sich auf Basis dieser Infrastruktur fördern. Die Qualität des Angebots, differenziert nach Zielgruppen, entscheidet die Entwicklung einer Wis-sensstadt.

Wissensstädte repräsentieren Wissen in seinem Kontext. Letztlich muß immer das Originaldokument studiert werden. Aber auf dem Wege dorthin kann vielfältiger Komfort geboten werden. Ein Benutzer findet Informationen, die er ursprünglich gar nicht gesucht hat, aber im Kontext seiner Überlegungen gut gebrauchen kann.

Ein Netz von Wissensstädten

Die Gestaltung einer Wissensstadt ist zunächst eine methodisch-didaktische, dann vor allem eine thematische Herausforderung, der sich neue Berufe und Institutionen widmen können.

Die neuen Applikationen sind auch dem Kontext "Wandel wollen" selbst zu widmen. Dazu gehört dann auch die Darstellung von Alternativen und Konflikten, Konsens und Dissens in der Beurteilung von Zielen und Vorgehensweisen. Dazu gehört auch die Begründung von Entscheidungen.

Es muß ein "Code of Conduct" für die Gründer, Gestalter, Betreiber und Benutzer von Wissensstädten in Übereinstimmung mit dem Willen zum Wandel gestaltet werden. Monopolstellungen und Mißbrauch müssen verhindert werden, ein Gesetz wäre denkbar.

Es ist vorstellbar, daß ein ganzes Netz von Wissensstädten entsteht, bei dem sich einzelne Wissenstädte bestimmten gesellschaftlichen und unternehmerischen Bedarfsfeldern widmen. Mit ihren Wissensvorräten treiben sie untereinander Handel. Diejenigen Wissensstädte, die die meisten Besucher und Benutzer anlocken, werden sich durchsetzen, andere, die didaktisch schlecht gemacht sind oder sich mit Themen beschäftigen, die nicht zukunftsweisend sind, könnten ein Opfer der Aufklärung werden.

Noch ist es eine gewagte Idee für eine Wunschvorstellung. Aber Wünsche von heute können Fakten für morgen werden. Die Städte des Wissens als Stätten der Begegnung sind eine Perspektive für den Weg in die Problemlösungsgesellschaft.

Städte des Wissens zu bauen, die aktuell und auch virtuell als Stätten der Begegnung von acht Milliarden Menschen aufgebaut und ausgestaltet werden könnten, ist mehr als eine interdisziplinäre Herausforderung. Das Vorhaben ist ein Ansatz zum Wandel und auf Sicht eines der größten Arbeitsbeschaffungsprogramme in der globalen Gemeinschaft. Vielleicht gelingt es, eine Koalition aus "Geist, Macht und Geld" zu schmieden. Eine europäische Initiative?

Helmut Volkmann ist Wissenschaftler in der Zentralabteilung Forschung und Entwicklung der Siemens AG



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