"Wieviel Umweltschutz braucht die Wirtschaft?"

Politik, Wirtschaft und Wissenschaft im Dialog


Helmut Volkmann, München



"Gute Geschäfte mit Ökotechnik"ist ein Artikel im Spiegel 26/1994 überschrieben. In der Zusammenfassung heißt es: "Mittelständler kooperieren, um Umwelttechnik zu produzieren; Großunternehmen steigen in die Zukunftsbranche ein. In den Betrieben wächst das Umweltbewußtsein, während es bei den Politikern schwindet. Ökotechnik wird zum guten Geschäft, mit dem immer mehr Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen."

Eine nüchterne Bilanz

In der Frage "wieviel Umweltschutz braucht die Wirtschaft?" scheinen Vorbehalte mitzuschwingen. Es ist angeraten, die generelle Konstellation im Prozeß der Innovationen zum Problemlösungsbereich des Umweltschutzes und der Umwelttechnik zu reflektieren:

(1) Die seit Jahren zu verzeichnenden Anstrengungen von Öko-Initiativen haben es vermocht, zumindest haben sie geholfen, eine Bereitschaft zu erzeugen, sich dem Thema Umweltschutz zu widmen und generell verpflichtet zu fühlen.

(2) Umweltschutz ist/wird als Staatsziel im Grundgesetz verankert. In den Leitsätzen vieler Unternehmen finden sich allgemein formulierte Verpflichtungen, zum Schutz der Umwelt beizutragen.

(3) Im Bereich der Industrie hat eine Öko-Avantgarde unternehmerische Initiativen entfaltet. Umwelttechnik ist eine Wachstumsbranche. Praktizierter Umweltschutz in der Gesellschaft schafft Arbeitsplätze. Es haben sich Koalitionen mit den Öko-Initiativen gebildet.

(4) Der Bürger, auf den es letztlich ankommt, denn er hat teilweise finanzielle Mehrbelastungen zu tragen, und er muß sich auch persönlich engagieren, scheint viel vernünftiger zu sein als ihm oft mit dem Schielen nach Maximierungsanteilen unterstellt wird.

(5) Die Öko-Avantgarde kommt zwangsläufig in Konflikt mit Gruppierungen, die bei Verschärfung der Auflagen des Umweltschutzes befürchten, Nachteile zu erleiden, für die zumindest die Vorteile noch nicht erkennbar oder bewiesen sind: Umweltschutz muß bezahlbar bleiben!

(6) Die Politik befindet sich derzeit in einer Position, wo sie in Abwägung der Gewichtungen zum Für und Wider und des Mehr oder Weniger den erkennbaren Handlungsbedarf des Umweltschutzes noch nicht in weiterreichende Regulierungen umsetzen kann.

Der in den ersten Punkten aufscheinende bisherige Erfolg wird durch die letzten Punkte relativiert. Von einem entscheidenden und befriedigenden Durchbruch zu Gunsten der Umwelt kann noch nicht die Rede sein. Leistungsbilanzen, was schon geschehen ist, dürfen nicht verdecken, was eigentlich noch, und zwar schneller als bisher eingeplant, getan werden müßte. Zur Erinnerung, was auf dem Spiel steht, genügen Stichworte: Weltbevölkerungsexplosion, Klimakatastrophe, Wassermangel!

Die Konsequenzen aus diesen Problemen sind weitreichend. Das ganze System, dem die reichen und entwickelten Industriegesellschaften ihren Wohlstand verdanken, ist gefährdet. Das will niemand. Es fehlt nicht an Analysen zur Lage, und es gibt auch genügend Vorschläge zu den Lösungen der Aufgabenstellungen. Es fehlt an Umsetzungskraft. Es fehlt eine übergreifende Orientierung für alle Beteiligten. Es fehlt eine konzertierte Aktion.

Ein Audit zum System

Probleme der innovativen Umsetzung haben ihre Wurzeln nicht nur in Bereichen der sachlichen Abwägung von wirtschaftlichen Vor- und Nachteilen für einzelne Gruppierungen. Fehlende Informationen, auch Fehlinformationen, mangelnde Aufklärung und nicht ausreichende Vorsorge zur Akzeptanz der Innovationen spielen eine Rolle. Blockaden ergeben sich - teilweise auch unbewußt - aus generellen Einstellungen zur Gesellschaft. Es muß ein Audit zum System der Wirtschaft und Gesellschaft gewagt werden.

Das System, dem die reichen und entwickelten Industriegesellschaften ihren Wohlstand verdanken, ruht auf den Säulen "Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft". Nicht die Verfolgung der freiheitlichen Wertvorstellungen beschert Probleme, sondern diese resultieren aus Verstößen gegen die freiheitlichen Errungenschaften: Die Transparenz der Märkte wird außer Kraft gesetzt oder unterlaufen! Den de jure gegebenen demokratischen Freiheiten des Bürgers wird de facto nicht Rechnung getragen! Das Rechtssystem wird zur Durchsetzung von Interessen mißbraucht!

Im Grundgesetz heißt es: Die demokratischen Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit. Dem Bürger wird im Rhythmus der Wahlperioden eine Stimme gewährt. Um sie zu gewinnen, wird ein Wahl-"Kampf" geführt. Der Bürger will nicht umkämpft sein, sondern mit Vertrauensbeweisen umworben werden. Zum Vertrauen gehören Wahrheit und Fürsorge, Akzeptanz des anderen und die Chance zur Entfaltung. Der und die Umworbene schätzen auch Phantasie zur Entfaltung und Festigung einer Beziehung.

Die Wahrheit ist, es müssen Opfer gebracht werden. Die Fürsorge muß den eigenen Kindern, damit den zukünftigen Generationen gelten. Akzeptanz heißt, alle Menschen in der Gemeinschaft zu integrieren. Eine Chance für die Entfaltung liegt in der Partizipation des Bürgers bei der politischen und wirtschaftlichen Gestaltung. Der angesprochene Komplex rüttelt nicht an Fundamenten des Systems, wohl aber werden Positionen in Frage gestellt.

Die Wiederbelebung der Polis

Es bedarf einer Wiederbelebung der Polis in zweifachem Sinne des Begriffs: einer Wiederbelebung der politischen Kräfte (die Betonung liegt auf der), die in der Lage sind, Orientierung zu stiften und weiterreichende fundamentale Engagement zu initiieren, zu beflügeln und zu bündeln; einer Wiederbelebung der Polis als Ort der Begegnung. Die Beteiligten brauchen ein Forum, wo sie sich treffen können, und urbane Einrichtungen, wo sie gemeinsam an der Gestaltung der Zukunft arbeiten können. Die Chance besteht darin, daß alle Beteiligten direkt Rede und Antwort stehen müssen, aber auch darin, daß sie ihr Zusammenwirken wie in der Polis der Antike organisieren und mit neuen Methoden der Innovation gestalten können.

Drei Gruppen müssen sich mit den Erfordernissen der zukünftigen Entwicklung auseinandersetzen: die Unternehmer, die Kommunen und die Bürger als Betroffene der Entwicklung. Sie treffen konkret und konzentriert in der Stadt als Ort des Geschehens zusammen. Dort lassen sich bisher isoliert verfolgte Anstrengungen und Engagements am besten gemeinsam verfolgen.

Zu diesem Zweck muß Wissen und Expertise zur Sache, aber auch Meinung und Gegenmeinung zur Funktion des Systems konzentriert und transparent gemacht werden. Denkbar wäre, verteilt in einer Stadt oder sogar über mehrere Städte im Verbund, Zentren der Begegnung einzurichten. Jedes Zentrum der Begegnung widmet sich einem speziellen Thema. Es entstehen "Städte des Wissens als Stätten der Begegnung".

In einer solchen Wissensstadt lassen sich für den Umweltschutz beispielhafte Lösungen für Ökobauwerke und urbane Einrichtungen der Ver- und Entsorgung in interaktiven Ausstellungen zum Ausprobieren konzentriert präsentieren, und es kann der gesamte übergreifende Kontext zum Problemfeld in seinem Für und Wider der Standpunkte - herausgelöst aus der Anonymität der Interessenvertretungen - dargestellt werden.

Die geschaffenen Orte der Begegnung ziehen Aktivitäten an. Vertreter der Unternehmen als Lieferanten und Kunden und Repräsentanten der Kommunen als Dienstleister und Nutzer der Problemlösungen und die Bürger als Betroffene können gemeinsam miteinander arbeiten. Zukunftswerkstätten, interdisziplinär arbeitende Gruppen und Künstler können eine Heimstatt finden. Der Bürger kann mitwirken, lernen und sich selbst engagieren. Szenarios werden gemeinsam entworfen. In der Begegnung unterschiedlicher Wissenskulturen kann ein neues Leitbild entstehen: Das gesellschaftliche Regulativ der Maximierung von Leistungen muß um die Minimierung der Störungen ergänzt werden.

Es gibt genügend aufgelassene alte Industriegelände, die sich zu einer Wissensstadt ausgestalten lassen. Der Aufwand ist, wenn Kommunen und Unternehmen zusammenwirken, tragbar. Es entstehen neue Arbeitsplätze. Auf der EXPO 2000 können mit der Wissensstadt Chancen demonstriert werden.



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