Z ukunft und kulturelles Gedächtnis

Städte des Wissens

als Stätten der Begegnung


Helmut Volkmann, München



Meine Damen und Herren!

Was bleibt? Was bleibt nach einem kleinen Festakt wie diesem für die Zukunft wirksam?

Von einem Vertreter eines großen Unternehmens der Elektrotechnik und Elektronik erwarten Sie möglicherweise, daß er vorrangig zu technischen Herausforderungen der Zukunft Stellung bezieht. Und zu dieser Erwartung scheint der Titel des Vortrages gar nicht so recht zu passen.

Zukunft und kulturelles Gedächtnis

Städte des Wissens

als Stätten der Begegnung

Zu dieser Erwartung paßt schon eher das Bild mit dem Computer als dem Repräsentanten der Hochtechnologien. Und dazu passen auch die immer wieder gleichen Fragen: Haben die Japaner einen Vorsprung? Was passiert in den USA? Und was machen wir in Europa?

Das Wesentliche zu dieser Problematik ist gesagt und kann nachgelesen werden - beispielsweise bei Seitz "Die japanisch-amerikanische Herausforderung - Deutschlands Hochtechnologien kämpfen ums Überleben". Die Bilanz ist nicht gut. Lothar Späth hat seine Kritik an der Industriepolitik in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung am 29.11.93 auf drastische Weise zusammengefaßt: "Wir bewegen die großen Leichenzüge ständig vor dem Friedhof hin und her!"

Die Schwächen sind bekannt. Falsch verstanden sind Macht und Einfluß, Geld und Prestige nicht unbedingt die Freunde der Innovation. Wenn man sie richtig verstanden für eine Sache gewinnt, können sie mächtige und notwendige Promotoren werden.

Lassen Sie mich zur weiteren Einstimmung einige Aspekte zum "Gedächtnis einer Kultur" skizzieren und dann eine Begebenheit erzählen, die auch an den Schluß hätte gestellt werden können. Auf diese Weise möchte ich auf einen Ring von Gedanken aufmerksam machen, der immer und immer wieder zu durchlaufen ist. Das Zirkuläre ist das Charakteristikum des kulturellen Gedächtnisses, die Wiederholung des ewig Gleichen:

- Das galt und gilt noch immer für die orale Tradition der Erählung von Märchen und Mythen, wie sie in allen Kulturen überliefert sind.

- Das galt und gilt immer noch für das Studium der Bücher, die in großen Weltreligionen immer wieder im Geiste eines Kanon interpretiert werden.

- Das galt und gilt immer noch für den Besuch von Bauwerken und Gedenkstätten, von Tempeln und Kirchen, von Schreinen und Kalvarien, die mit Bildern und Allegorien, auch abstrakten Metaphern künstlerisch ausgestaltet sind. Dort veranstaltete Prozessionen leiten Gedanken.

Die Feste, die eine Kultur feiert, repräsentieren ihr kulturelles Gedächtnis. An diesen Festen begegnen Menschen einander, nicht um etwas Neues zu erfahren, sondern um das Alte und Bewährte wieder zu erinnern. Daraus schöpfen sie Kraft für die Zukunft.

In der Kombination von "Sage und Schreibe, Höre und Sehe, Taste und Fühle, Schmecke und Genieße", ging es und geht es auch heute noch auf diesen Festen im modernen Sprachgebrauch in gewisser Weise "multimedial" zu. Aus dem Studium der Kulturen läßt sich für die sinnvolle Nutzung von Multimedia so mancherlei lernen.

Die Begebenheit, die ich Ihnen erzählen möchte, handelt nicht unmittelbar von einem solchen Fest, sondern soll helfen, einen Kontext zu erschließen: "das Flughafen-Experiment":

Der Wetterbericht vom November verheißt wenig Gutes. Eine Maschine im Anflug auf einen gottverlassenen Flughafen schafft es gerade noch so. Es ist, wie sich herausstellt, die einzige Maschine. Sie ist wenig besetzt. Das Wetter verschlechtert sich dramatisch, so daß auch das Personal des Flughafens keine Chance hat, nach Hause zu kommen. Die Prognose ist, daß alle Beteiligten sich auf eine Wartezeit von einigen Tagen, wenn nicht länger, einrichten müssen. Das Pro blem, was sich stellt, ist im wesentlichen, wie vertreibt man sich die Zeit? Ansonsten können alle Beteiligten den Komfort großzügig genießen. Man nimmt es mit Humor. Es könnte ja auch ein Urlaub sein. Über den Super-Highway der informationalen Verkehrswege besteht Verbindung nach draußen.

Mit der Zeit wird auch das Fernsehen mit seinem Programmangebot, das jeweils durch Werbung unterbrochen wird, fad. Die Beteiligten ziehen es vor, sich in der großen, komfortabel eingerichteten Lounge zu treffen und beginnen, einander kennenzulernen.

Die Passagiere der letzten Maschine sind Menschen mit Bildung und Format, belesen und kulturell interessiert. Es sind Unternehmer, Führungskräfte und Künstler. Sie sind methodisch geschult, und sie haben sich durchaus etwas mitzuteilen. Aber die Zeit ist lang. Das nähere Kennenlernen führt dazu, daß ein jeder so etwas wie einen Spitznamen erhält. Die Frauen und Männer finden zu einer Gruppe zusammen.

Draußen tobt ein Unwetter, drinnen ist es warm und gemütlich. Sie verabreden, ein Spiel zu spielen. Folgende Regeln werden vorgegeben:

1. Ein jeder stelle sich vor, in der Zeit zu leben, von der er annimmt, daß sie seine kulturellen Wurzeln am besten repräsentiere.

2. Und er stelle sich vor, einem heute lebenden modernen Menschen erzählen zu müssen, was er tun würde, wenn

Wenn er etwas Neues erfahren wollte

Wenn er mit Freunden ein fundamentales Problem zu besprechen habe

Wenn er sich mit Sinn und Lust zerstreuen wolle

Wenn er anderen etwas ganz Wichtiges über seine kulturellen Wurzeln vermitteln wolle

3. Und er stelle sich vor, diese Informationen in einer Weise zu übermitteln, wie es der Zeit seiner kulturellen Wurzeln entsprochen hätte

Entsprechend ihrer Vorbildung und Veranlagung wollen die Beteiligten das Ganze systematisch angehen. Sie verabreden, einen morphologischen Kasten zu bauen. Sie wollen sich zunächst Notizen machen und diese Notizen in den entsprechenden Feldern des morphologischen Kastens positionieren.

In den Zeilen stehen die Personen und in den Spalten die Zeit, die Aufgabenstellungen mit ihren Kurzbezeichnungen und die Form der Übermittlung.

Die mediale oder technische Repräsentation spielt eigentlich keine Rolle. Im einfachsten Fall legen sie einfach Zettel auf den Boden. Vielleicht funktionieren sie auch das Anzeigensystem um, als ob sie ein Spreadsheet benützen könnten. Wahrscheinlich haben einige auch einen Laptop dabei.

Nicht allein die diskutierten Inhalte, sondern auch die sich entwickelten Prozesse verdienen unser Interesse.

Das Flughafenpersonal, das sich ebenfalls die Zeit vertreiben möchte, gesellt sich nämlich dazu und geht den Beteiligten hilfreich zur Hand und wird, da ebenfalls aus aller Herren Länder kommend, schrittweise integriert. Es bilden sich Gruppen, die miteinander diskutieren, was auf den Zetteln am besten zu vermerken sei.

Die komfortable Wartehalle erscheint plötzlich wie verzaubert. In den Augen eines stillen Beobachters fungiert sie als eine Agora, ein Forum, ein Basar, ein Marktplatz, ein Foyer auf einem Kongreß oder im Theater.

Menschen reden miteinander ernsthaft und engagiert, dennoch entspannt und fröhlich. Und sie wagen sich heran an Diskussionen zu den großen, fundamentalen Problem- und Aufgabenstellungen der Zeit. Und sie erfinden mit Rückgriff auf ihre Erfahrung und auf die Kenntnisse ihrer kulturellen Vergangenheit improvisierend immer wieder neue und andere Formen, die komplexen Inhalte darzustellen.

Die Leute haben ja viel Zeit. Und so wird nach und nach die ganze Elektronik der Informations-, Kommunikations- und Medientechnik aus dem Flughafen zusammengeholt , ja sogar der Flugsimulator für das Training der Piloten wird integriert. Das Flughafenterminal wird zu einem Informationsterminal und an das weltweite Netz der Super-Highways der informationalen Verkehrswege angeschlossen. Auf diese Weise können zusätzliche Informationen besorgt werden. Umgekehrt wird das Geschehen in alle Welt übertragen und wie ein Sportereignis mit Spannung verfolgt und kommentiert.

Und wenn es Wirklichkeit wäre und dieser Vortragssaal entsprechend hergerichtet und ausgerüstet wäre, dann könnten wir an dem Geschehen teilnehmen, als ob wir direkt dabei wären.

Irgendwann kommt die erlösende Botschaft, daß der Flughafen wieder geöffnet wird. Das löst Freude aus, aber auch ein wenig Traurigkeit, heißt es doch Abschied nehmen. Zum Schluß kommt es beinahe zu einem Streit.

Ein Amerikaner, ein Japaner und ein Europäer als mächtige Repräsentanten der Triade geraten aneinander. Warum? Sie wollen das Informationsterminal, so wie es ist, kaufen und das ganze Personal übernehmen. Eine Utopie?

Keine Utopie, sondern eine höchst reale Tatsache ist, daß in etwa 20 Jahren acht Milliarden Menschen an Bord des Raumschiffes Erde sein werden. Das sind fast drei Milliarden mehr als heute. Angesichts dieses Bevölkerungsdrucks müssen die entwickelten Industriegesellschaften davon ausgehen, daß Überlebenswille und Findigkeit der betroffenen Menschen alles mobilisieren werden, sich eine einigermaßen akzeptable Lebenswelt zu sichern.

Das von der europäischen Gemeischaft verfolgte Projekt FAST "Forecast and Assesment for Science and Technology" hat diese Herausforderung erkannt. Die Verantwortlichen versuchen, Überzeugungsarbeit zu leisten, daß eine zukunftsorientierte Industrie- und Forschungspolitik nur sinnvoll zu gestalten ist, wenn sie an den Bedürfnissen der globalen Gemeinschaft ausgerichtet wird. Das ist gar keine Frage eines aufopferungsvollen Altruismus der reichen Gesellschaften, sondern ein Erfordernis, um für alle, auch die reichen Gesellschaften, die Zukunft überhaupt sichern zu können.

Diese Erkenntnis ist aber durchaus noch nicht Allgemeingut, geschweige denn Richtschnur für die zum Handeln aufgerufenen Verantwortlichen. Es bedarf der Aufklärung und der Information, die Schritt für Schritt immer weitere Kreise der Bevölkerung in allen Teilen der Welt einbeziehen muß.

Im Zeitalter der Kommunikations-, Informations- und Medientechnologien sind gute Bedingungen vorhanden, Forderungen nach erweiterter Information und Aufklärung zu erfüllen und auch mit Hilfe dieser Techniken ganz entscheidende Beiträge zu den erforderlichen Problemlösungen zu leisten.

Wie dicht bei der Nutzung dieser Techniken Chancen und Risiken beieinander liegen, läßt eine Vision zu einem Projekt erkennen, das auch in der deutschen Presse in den letzten Wochen Beachtung gefunden hat:

Die Münchner Abendzeitung schreibt am 15. November 1993: Schon bald werden wir alle TV-Sender sein; der Fernseher als interaktiver Spielplatz; das Wohnzimmer wird zum Arbeitsplatz; einziger Nachteil der Hightech-Revolution - und dann kommt der groß aufgemachte Titel: "Die totale Glotze"!

Die ZEIT bringt am 29. Oktober 1993 einen Artikel mit der Kopfeinleitung: "Multimedia: In den Vereinigten Staaten wollen Telefon- und Kabelgesellschaften das elektronische Schlaraffenland schaffen, die totale Bild- und Tonkommunikation steht ins Haus; und dann kommt der Titel: "Der Computer übernimmt!"

Dahinter steht das von der amerikanischen Regierung geförderte Programm der "Super-Highways for Interactive Television", das hart am Kartellrecht entlang Unternehmenszusammenschlüsse von nie gekanntem Ausmaß ermöglicht. Und die unternehmerischen Kräfte haben die Chancen für sich durchaus erkannt.

- Es geht um Märkte mit einem Potential von Hunderten von Milliarden Dollar; einige Schätzungen gehen sogar bis dreitausend Milliarden Dollar.

- Für 51 Milliarden Mark kauft der Telefonriese Bell Atlantic die Nummer eins der Kabelbetreiber, TCI "Telecommunications Incorporation". Es ist die größte Übernahme der Wirtschaftsgeschichte. Dazu kommen die Warner Studios.

- Sony kauft die Filmstudios und alle Filmrechte von "Columbia", Matsushita erwirbt "Universal"; Microsoft, IBM und Apple sind auch mit von der Partie; Bertelsmann sucht Fuß zu fassen.

Es herrscht Euphorie. "Time" kommentiert dazu: "Wir erleben das große Sammeln für den Goldrausch"! Chancen werden auch im Bildungsbereich gesehen. Aber selbst Insider sind skeptisch, ob diese überhaupt genutzt werden würden. Ich zitiere: "Für viele kommt das Bild vom vernetzten Multimedia-Kunden einer Horrorvision gleich. Schon ist von einer Nation von Zombies die Rede, die noch mehr vor dem TV-Computer hängen als jetzt schon vor dem Fernsehgerät. John Mellone, der "König des Kabels", reagiert darauf allergisch: "Das Beste an Amerika ist, daß Individuen Wahlfreiheit haben", antwortet er auf solche Vorwürfe in bester US-Tradition."

Hier wird Industriepolitik im ganz großen Stil gemacht. Etwa vergleichbar dem Ausbau der Eisenbahnnetze, der Elektrifizierung der Städte, dem Bau der Autobahnen und der Telefonisierung der Verwaltungen und Haushalte. Der Ausbau dieser Netze war jeweils Voraussetzung für einen wirtschaftlichen Aufschwung, der für 20 bis 30 Jahre Prosperität brachte und nach einer Konsolidierungsphase nach rund 50 Jahren durch eine neue Welle fortgesetzt wurde. Vier dieser sogenannten Kondratieff-Zyklen hat die Industriegesellschaft durchlaufen. Der Aufschwung zum 5. Kondratieff läßt noch auf sich warten.

Wir müssen die Erfahrungen und Anstrengungen bewußt machen, die nötig sind, einen Aufschwung in der langen Welle der wirtschaftlichen Entwicklung zu bewirken. Gebraucht werden Visionen, keine Ideologien. Ich habe Gelegenheit gehabt, den Kontext und die Erfordernisse für einen Aufschwung in der Süddeutschen Zeitung am 9. Oktober 1993 darzulegen. Ein Aufschwung erfordert:

- unternehmerischen Wagemut und innovatives Können

- die Erschließung fundamentaler Innovationen

- Bereitschaft zu großem Investment

- die Befriedigung echter gesellschaftlicher Bedürfnisse

- eine Aufbruchstimmung in der Gesellschaft

- und Innovationen, die im internationalen Wettbewerb tragen.

Diese sechs Kriterien müssen insgesamt erfüllt werden.

Der unternehmerische Wagemut des Projektes "Superhighways" ist durchaus anzuerkennen. Aber genauso muß gewagt werden dürfen, den Ansatz und seine mögliche Entwicklung kritisch zu hinterfragen, damit nicht falsche, zumindest einseitige Intentionen mit falschen Argumenten als scheinbar richtig verkauft werden, in Wirklichkeit aber dazu führen würden, daß die Gesellschaften in die falsche Richtung abdriften.

Zu den falschen Intentionen gehört die einseitige Präferenz von "Konsum und Unterhaltung". Richtig ist vielmehr, daß auch die reichen Gesellschaften sich kein Mehr an "Konsum und Unterhaltung" leisten können, weil sie dann ihre Existenz gefährden. Es wird Aufklärung gebraucht, um die Chancen zu nutzen.

Wir müssen die Chancen erkennen: So sarkastisch es klingen mag: Probleme von heute sind die Geschäfte für morgen: Problemlösungsgeschäfte! Die Ansätze sind bekannt.

Geschäfte in diesem Bereich garantieren den entwickelten Industriegesellschaften Wettbewerbsvorteile im internationalen Markt. Die darin steckenden Herausforderungen werden jedoch nicht ausreichend reflektiert:

Die arbeitende Bevölkerung muß hoch komplexe Informationsarbeiten verrichten können. Nicht Konsum und Unterhaltung, sondern Investment im Problemlösen und Lernen sind zukunftsträchtig. Die These ist: Zeitinvestment in Lernen schafft mehr Arbeitsplätze als Zeitverbrauch durch Freizeitbeschäftigung. Es müssen Ideen gewagt werden. Das Modell des verstärkten Lernens macht Sinn, wenn es gelingt, die "Früchte des Lernens" im internationalen Wettbewerb zu vermarkten. So gesehen ist der Weg des Lernens das erste Ziel.

Wir müssen uns auf den Weg zu den Lösungen machen. "Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte!"

Wir müssen raus aus dem Teufelskreis der Problemproduktion. Wir müssen nicht das Rettungsboot "Lean", sondern das Rettungsboot "Keen" besteigen. Die Keen-Bewegung führt zu den Inseln der wahren Bedürfnisse. Zu deren Befriedigung werden Informationen gebraucht, müssen Ideen gewagt werden und ist Orientierung notwendig. Wir müssen Zukünfte erfinden! Also auf zum Kontinent der Lösungen und dann zurück. Eine Vision wird gebraucht. Ein Volk ohne Vision geht zugrunde.

Diese kinderbuchartige Illustration wird noch nicht jeden, den es angeht, erreichen. Aber sie signalisiert, wenn auch erst ganz schwach, einen Trend.

Zunächst sieht es eher danach aus, daß sich die Bewegung Richtung "Konsum und Unterhaltung" in den nächsten Jahren noch verstärkt.

Der deutsche Trendforscher Gerd Gerken sagt äußerst turbulente Zeiten für die nächsten 10 Jahre voraus.

Die Turbulenzen betreffen die Konsum- und Unterhaltungsmärkte, das Kundenverhalten und wirken damit auch auf das Führungs- und Managementverhalten zurück. Das Zauberwort heißt Chaos. Damit wird die "Nicht-lineare Dynamik der Evolution mit neuen Formen der Selbstorganisation" charakterisiert, nicht etwa das Alltagsverständnis des völligen Durcheinanders.

Der Effekt kommt dadurch zustande, daß immer schneller neue Märkte noch vor dem Bedarf gemacht werden müssen, weil die Konsumenten durch die "Medienekstase" immer schneller nach neuen Angeboten verlangen. Dadurch ändert sich die Verhaltensweise aller. Freiheit und Flexibilität werden in den neuen Formen der Selbstorganisation verwirklicht, beim Konsumenten und beim Produzenten. Es entsteht durchaus eine neue und hohe Schule des evolutionären Chaos-Managements.

In seinem neuesten Buch "Trendzeit - Die Zukunft überrascht sich selbst" prognostiziert Gerken neun Metatrends. Leider sind die Bezeichnungen noch nicht so griffig, daß sie leicht zu verstehen wären:

Mit dem Erbe des Post-Modernismus (Trend 1) geht es über den chaotischen Futurismus (Trend 3) mit expansivem Denken (Trend 6) zu fernen Mythen (Trend 9).

Das Buch ist lesenswert, aber nicht einfach zu lesen.

Im Hinblick auf die Chancen und Risiken entsteht eine äußerst paradoxe, damit auch höchst gefährliche Konstellation:

- Chaos-Management muß Märkte vor dem Bedarf machen. Es muß Zukünfte erfinden, um Optionen in der Zeit zu erlangen.

- Chaos-Management muß sich Methoden bedienen, die heutige Formen des Managements in hohem Maße in Frage stellen: Lean ist out! Formen der Selbstorganisation sind gefragt!

- Es entsteht über die Intensivierung von Konsum und Unterhaltung eine Art "mündiger" Verbraucher, der selbst in den Formen des Chaos denkt, in Führungspositionen aufsteigt und Zukünfte erfindet und Märkte macht.

Die Frage ist, ob die ohne Zweifel entfaltbaren positiven Potentiale der Chaosorientierung "Zukünfte erfinden" nicht auch schon frühzeitig in Richtung der Herausforderungen "Probleme lösen und lebenslanges Lernen" mobilisiert werden können. Zum Glück sind hier erste Initiativen zu verzeichnen. Die Chaos-Universität in Dänemark bietet eine Aus- und Weiterbildung im Sinne des Chaos-Managements an. Es wird nicht nur Fachwissen gelehrt, sondern Kultur erlebt, was Kreativität und Phantasie beflügelt. Das Prinzip Selbstorganisation wird verwirklicht.

Auf einer Chaos-Universität wird die Realität von Gesellschaft, Kultur und Technik erlebt, wie in dem eingangs geschilderten "Flughafenexperiment": kulturelle Inhalte, Selbstorganisation und technische Lösungen finden in Symbiose zu Problemlösungen.

In dem Augenblick, wo nur eine Gesellschaft sich besinnt und die Ressourcen Richtung "Probleme lösen und lernen" umsteuert, ergibt sich eine ganz andere Konstellation im internationalen Wettbewerb. Es gilt im Problemlösungsgeschäft die gleiche Herausforderung, Zeit zu gewinnen, jedoch in einem doppelten Sinne:

- Zeit gewinnen als Gesellschaft, die Probleme überhaupt noch lösen zu können

- Zeit gewinnen als Unternehmer, um als Erster mit Problemlösungen den Markt vor dem Bedarf zu machen

Vielleicht ist es günstig, das eine, "Konsum und Unterhaltung", zu tun ohne das andere, "Probleme lösen und lernen", zu unterlassen, um auf den Metatrends des Verhaltenswandels, wie Gerken es nennt, in eine neue Qualität zu surfen.

Es gibt einige gute und richtige Argumente, daß Europa, wenn es sich besinnt, frühzeitig eine gar nicht so schlechte Position erringen kann. Bildungsstand und kultureller Reichtum sowie Erfahrungen im industriellen Anlagengeschäft bilden auch weiterhin eine gute Ausgangsbasis.

Die Lernfähigkeit und Lernbegierigkeit der aufstrebenden Gesellschaften sind jedoch nicht zu unterschätzen. Software kann man heute in Indien, Korea oder China in Standardqualität zu erheblich niedrigeren Preisen gemacht bekommen. Der Trend zum globalen Sourcing wird durch die Vernetzung gefördert. Management und Ingenieure in Europa müssen also noch etwas anderes besser können als andere in der Welt, sonst gehen noch weitere Wettbewerbsvorteile verloren.

Experten schätzen, daß eine industrielle Produktion herkömmlicher Art einen Anteil von hoch ausgebildeten Leuten an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen von ca. 20 % hat. Für eine industrielle Produktion der Zukunft der flexiblen Konsummärkte wird hingegen ein Anteil von 60 % und mehr veranschlagt. Das dürfte auch für das Problemlösungsgeschäft gelten.

Europa braucht etwas, das Mut macht, etwas völlig Neues zu wagen, das eine Aufbruchstimmung erzeugt. Die Unternehmer müssen wieder "Mega-Mut" beweisen wie in den Zeiten des Eisenbahnbaus, der Elektrifizierung und Telefonisierung. Das ist die Voraussetzung, um den Aufschwung im fünften Kondratieff-Zyklus in Gang bringen zu können. Datenautobahnen erfüllen die notwendigen Bedingungen zur Schaffung einer Infrastruktur, aber nicht die hinreichende Bedingung, um die Zukünfte für Applikationen zu erfinden.

Es ist nicht damit getan, in Tausenden von Datenbanken den Rohstoff Wissen recherchieren zu können, sondern es werden vergleichbar dem industriellen Markt auch Halb- und Fertigfabrikate an Problemlösungswissen gebraucht, die von den Problemlösern in den eigenen Wertschöpfungsketten weiter veredelt und wiederum in den Informationenmarkt für Problemlösungen eingespeist werden. Lernen und Problemlösen werden wichtiger werden als Konsum und Unterhaltung.

Da muß mehr passieren, da muß noch etwas hinzukommen. Oder kommen uns etwa andere zuvor? Vielleicht sollte die folgende fingierte Meldung ernst genommen werden:

Auf den Tag genau wie geplant ist rechtzeitig zum Jahrtausendwechsel am 31. Dezember 1999, 9,00 Uhr, die unter Führung des Alpha-Konsortiums mit einem Kapital von rund 550 Mill. Dollar erstellte Knowledge City in einem Vergnügungsareal im Pazifischen Raum nach nur dreijähriger Bauzeit ans Netz der Breitbandkommunikation gegangen. Die Betreiber sind optimistisch, in schon weiteren drei Jahren eine vollständige Refinanzierung zu erlangen.

"Ich stelle mir vor", sagt Gantenbein, "eine Stadt zu errichten, in der alles Wissen der Welt versammelt ist und in geeigneter Aufbereitung angeboten wird, und zwar nicht nach wissenschaftlichen Diziplinen geordnet, sondern nach Lebens- und Problembereichen aufbereitet."

Wissen und Orientierung bieten heißt die Devise des Unternehmers, der die Knoledge Cities betreibt. Das Anliegen ist,

- Grundwissen zu festigen und zu verbreiten, die Denk- und Arbeitsmethodik zur besseren Beherrschung von Komplexität weiterzuentwickeln und ihre Verbreitung zu fördern,

- Wagnis-Ideen zur gesellschaftlichen Gestaltung anzubieten,

- Leitbilder für die Zukunftsgestaltung zu vermitteln,

Besucherzielgruppen der Knowledge Cities sind nicht nur Schulklassen und Familien, sondern auch Gruppen von Bürgern und Verantwortlichen, die sich mit bestimmten Problemen auseinandersetzen.

An dieser fingierten Meldung stört eigentlich nur, daß das Investment im Pazifischen Raum erfolgt und daß die Wissensstadt erst 1999 ans Netz der Breitbandkommunikation geht.

Warum nicht hier in Europa? Warum nicht früher? Warum nicht im Vorlauf zur Expo 2000, und dann auf der Weltausstellung, die Deutschland im "magischen Jahr" des Jahrtausendwechsels in Hannover ausrichtet? Jahrzehnte noch würden die Besucher von den neuen Erlebnissen des Lernens sprechen und Nutzen haben.

Es könnte ein ganzes Netzwerk von Wissensstädten in Europa betrieben werden. Zu jedem der großen Problemkomplexe eine.

Bei diesem Vorschlag wird dann oft die Frage an mich gerichtet: Wie stellen Sie sich das nun im einzelnen konkret vor? Was ist der Nutzen für die Unternehmen und die Wirtschaft? Dazu läßt sich durchaus konkret etwas sagen. Ich verweise auf die Ihnen vorliegende Zusammenfassung. Die Spezifizierung im einzelnen ist nicht das Problem.

Viel wichtiger als die Machbarkeitsdiskussion ist, an einem kleinen Beispiel das Potential demonstrieren zu können. Aber dazu bedarf es im Vorlauf der Phantasie und der Kreativität bei den Unternehmern und Ingenieuren und die läßt sich weder durch Vorträge noch durch Aktenvermerke und Berichte erzeugen. Chaos muß erlebt und gelebt werden. Fundamentale Innovationen erfordern unternehmerischen Wagemut. Und wie sieht es damit aus?

Die Münchner Abendzeitung titelt am Dienstag, den 21. Sept. 1993 als Hauptüberschrift:

Deutsche Chefs - zu viele Spießer, zu wenig Spinner

und bringt ein Interview mit Prof. Berth von der Kiembaum-Akademie. Die von ihm durchgeführte empirische Langzeit-Untersuchung auf Basis von 116 Firmen hat gezeigt - ich zitiere - "84 % aller großen Ideen kommen von den kreativen Spinnern"! Aber deren Entfaltungsbereich wird durch die anderen, die wohl gemerkt auch gebraucht werden, behindert. Denn wenn alles Spinner wären, könnte eine Gesellschaft auch nicht funktionieren. Es kommt auf die Mischung der Talente von Kreativen und Machern an, die ein Team bilden müssen. Der Bericht mit seinen Folgerungen und Vorschlägen sollte Pflichtlektüre für Führungskräfte und zukünftige High-Potentials sein!

Zum Spinnen gehört beispielsweise auch, Märchen und Mythen über die Zukunft zu erzählen und neue zu erfinden, so wie es in der oralen Tradition aller Zeiten als hohe Kunst ausgeübt wurde. Damit wir wieder wünschen lernen wie im Märchen mit der guten Fee. Wünsche von heute sind nämlich Fakten für morgen.

Es wären viele Geschichten zu erzählen. Beispielsweise von Ingo, dem alten Ingenieur, von Eva Pragma, der schönen Wahrsagerin, vom Mythos der Entscheider der Zukunft, und ich habe aus Anlaß der Hannover Messe 1986 und 1987 über das Medium Btx solche Geschichten auch erzählt.

Die Geschichte von der Unsinnmaschine finden Sie in den Unterlagen.

Der erfinderische Geist kann mehr versuchen. Er kann versuchen, sich eine soziale Fiktion in Analogie zu Science Fiction zur kulturellen Dimension vorzustellen.

Ich stelle mir vor, pflegt Gantenbein, die Romanfigur bei Max Frisch, zu sagen, die sehend war, aber vorgab, blind zu sein, ich stelle mir vor, daß an weltweit anerkannten hohen Feiertagen sich sozial integrierte Gruppen, es können Familien, Wohngemeinschaften und/oder Arbeitsgemeinschaften sein, aufmachen, das Netzwerk der Wissensstädte zu besuchen und ihren Besuch an einem sich herauszubildenden Kanon orientieren. An diesem Tage wollen sie weder etwas lernen, noch Probleme lösen, sich auch nicht nur amüsieren; sie wollen sich lediglich immer wieder an das erinnern, was wichtig ist, um ihre eigene Zukunft zu gestalten.

Wie das im einzelnen aussieht, wissen wir nicht. Aber wir können sicher sein, daß die inhaltlichen Schwerpunkte sich nicht wesentlich unterscheiden von dem, was zu allen Zeiten zu hohen Geistesgütern der Menschen gehört hat: Humanität, Brüderlichkeit, Solidarität, Gerechtigkeit, Gemeinsinn für das Ganze und auch Sinn für das Schöne.

Jede der existierenden Kulturen wird auf es auf ihre Weise pflegen und alle gemeinsam werden gewahr, daß sie Teilhaber an einem multi-kulturellen Gedächtnis sind.

Wenn Sie diese soziale Fiktion, die sich jeder auf seine Weise vorstellen mag, jetzt noch einmal rückkoppeln auf die ersten Vorschläge zu den notwendigen Anstrengungen in Politik und Wirtschaft, dann werden Sie vielleicht den einen oder anderen Vorschlag mit anderen Augen sehen. Und das ist der Sinn mit der Begegnung eines kulturellen Gedächtnisses. Wenn wir es nur richtig anpacken, dann hat die Zukunft unserer Kinder doch noch eine gute Chance.

Und so spielt es keine Rolle, ob wir zurückschauen "Zukunft braucht mythische Herkunft" oder vorausschauen "Zukunft braucht einen neuen Mythos", die gewinnbare Orientierung ist die gleiche. Orientierung braucht einen Hauch des Mythischen, der in der Vergangenheit und Zukunft weht. Was bleibt? Der Mythos bleibt! Für alle weitergehenden Konkretisierungen muß jeder selber Antworten suchen und geben. Wer Chaos zu managen versteht, wird die Zukünfte, die wir brauchen und wollen, auch erfinden können: Also, dann "Auf zum Kontinent der Lösungen"!

Weiterführende Materialien:

Gefragt sind Visionen, in: Süddeutsche Zeitung vom 9./10. Okt. 1993

Vom Nutzen der Zukunftsforschung, Skizzen zum Leitbild einer Wissensstadt, in: Zukünfte 4/92

Mehr als Informationsgesellschaft - Wagnis-Ideen für eine aktive Zukunftsgestaltung, in: gdi-impuls 2/91, Rüschlikon

Dr. Helmut Volkmann, Abteilungsdirektor in der Zentralabteilung Forschung und Entwicklung der Siemens AG



[Artikel und Ausätze]