Über Datenautobahnen spricht man nicht - man benutzt sie

Helmut Volkmann München

Die informationale Infrastruktur Das vorrangige Ziel für die entwickelten und reichen Industriegesellschaften, ihre informationale Infrastruktur auszubauen und weiter zuentwickeln, hat mit den Datenautobahnen eine breite Resonanz bekommen. Was Experten schon seit Jahren verfolgen, fand auch politische Beachtung.

Das ist zwar an sich nichts spektakulär Neues, bietet jedoch in seiner Wirkung eine weiterreichende Perspektive für vielfältige Applikationen: für schnelle geschäftliche Transaktionen, für Teleshopping von Konsum- und Investitionsüutern, für Administration und Bürgerservice, für Medizin und Gesundheit, für Reisen und Freizeit, für Unterhaltung, für Schulung und Training, für Kultur und Bildung.

Neuartige Anwendungs- möglichkeiten Über die schon installierten und sich weiterentwickelnden elektronischen Netzwerke wächst "bottom up" evolutionär ein Potential für das Erschliessen, das Aufbereiten und den Transfer von Wissen heran. Dies können nicht nur Experten, sondern unmittelbar Interessierte aller Art nutzen. Multimedia eröffnet neuartige Anwendungsmöglichkeiten.

Kritische Stimmen zu dieser Entwicklung warnen vor einer euphorischen Überzeichnung des Neuen. Es wird auch mit Sorge gefragt, ob die Marktkräfte allein ausreichen, anspruchsvolle und sinnvolle Applikationen im Bildungs- und Kulturbereich sowie für komplexe Problem- und Aufgabenstellungen zu realisieren.

Die Zukunft neu erfinden Die entwickelten Industriegesellschaften müssen etwas völlig Neues wagen und Zukunft neu erfinden". Darin liegt zugleich eine Chance für die globale Gemeinschaft.
  • Probleme von heute sind Geschäftsmöglichkeiten für morgen.
  • Die gesteigerte Komplexität dieser Geschäfte erfordert eine höhere Qualifikation.
  • Lebenslanges Lernen für jeden Bürger ist angesagt.
  • Die großen Organisationen haben schneller zu lernen.
  • Information muß besser beherrscht werden, damit sich die Komplexität bewältigen läßt.
  • Es bedarf eines "geistigen" Aufbruchs mit einer langfristigen Orientierung, der es ermöglicht, auch unbequeme Wahrheiten zu verkraften.

Ziel muß sein, die "Produktivität des Geistes" zu fördern. Die Gesellschaft muß den "Wandel wollen"! Es geht um die Erschließng der Problemlösungsgeschäfte.

Bedarfs-, Applikations- und Innovationsfelder sind bekannt: ressourcenschonende Produkte und Recycling, Energieersparnis, um weltschonender Verkehr, sozialverträgliche Arbeit und Automation, gesundes Bauen und Wohnen, Gesundheitsvorsorge, Sicherheit für den Bürger, komfortable Kommunikation, schlanke Organisation und gesicherte Information, sinnvermittelnde Bildung und Kultur, mußevolle Freizeit. Das Erschließen neuer Märkte erfordert Aufklärung und Informationstransfer.

Der Auf- und Ausbau von Netzen Beim Ziel, eine informationale Infrastruktur aufzubauen, folgt eine Industrie-, Technologie- und Forschungspolitik bewährten Mustern der Industriegesellschaft: Der Auf- und Ausbau von Netzen stimuliert einen evolutionären Prozeß, in dem durch konkurrierende und kooperative Anstrengungen viele innovative Applikationen entstehen können. Durch sie wird das Netzwerk schrittweise immer dichter, anspruchsvoller und mit neuen Nutzungsmöglichkeiten "verknotet".

In der 200jährigen Entwicklung der Industriegesellschaft sind mehrere große Netzwerke entstanden. Jedes hat einen weiteren innovativen Schub begünstigt, dessen Wirkung sich in den langen Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung, den Kondratieff-Zyklen, mit einer Phase des Aufschwungs, der Reife und des Einschwingens nachweisen läßt. Dazu gehören das Eisenbahnnetz (2. Zyklus: 1847 - 1873 - 1893), das Elektrizitätsversorgungsnetz (3. Zyklus: 1893 - 1913 - 1939), das Autobahnennetz und das Kommunikationsnetzwerk (4. Zyklus: 1939- 1966 - 1984).

Es war immer ein völlig neues Netzwerk, über dessen Anlage und Wirkungsweise es zu Beginn nur unklare Vorstellungen gab. Die reichen Industriegesellschaften befinden sich im Übergang vom vierten zum fünften Kondratieff-Zyklus (1984 - 2015 - 2035), der gleichzeitig mit dem Wandel zur Informationsgesellschaft verbunden ist. Es ist noch offen, welche Form der informationalen Infrastruktur das Netzwerk des fünften Kondratieff-Zyklus repräsentieren wird.

Gemessen an den skizzierten Herausforderungen dürfte auch wegen warnender Stimmen zumindest eine ständige Überprüfung notwendig sein: Es besteht das Risiko, die Wahrnehmung von Chancen für neue wie anspruchsvolle Applikationen zu versäumen.

Diese werden beispielsweise für das "lebenslange Lernen" gebraucht, damit sich im internationalen Wettbewerb komplexere Problem- und Aufgabenstellungen bewältigt lassen. Das Problemlösungsgeschäft erfordert eine höhere Qualifikation der Beteiligten und die bewußte Entwicklung zur Problemlösungsgesellschaft. In der Lösung der eigenen Probleme liegen die Chancen für den Export von morgen!

Die Herausforderungen und auch Mahnungen lassen sich konstruktiv in eine komplementäre Aufgabenstellung einbringen: Das Informationsgeschehen im Netzwerk ist nicht nur auf und mit den Datenautobahnen zu gestalten, sondern die Nutzungspotentiale sind als eigenständige Knoten der Verbindungen aufzufassen und ergänzend nach einem Leitbild mit einer weitergehenden Orientierung zu gestalten.

Gesucht wird das prägende Netzwerk für den fünften Kondratieff-Zyklus: Es geht um mehr als Datenautobahnen. Dem sich entfaltenden evolutionären Prozeß der Nutzung der Netzwerke sind zusätzliche Impulse zu verleihen. Der infrastrukturpolitische Ansatz ist über ein erweitertes Leitbild mit einem applikationspolitischen Ansatz zu verbinden.

Ausgehend von der Metapher der Datenautobahnen ist zu fragen, was geschieht, wenn die Daten die Communication Highways an den Anschlußstellen verlassen und zu den Punkten ihrer Verwendung gelangen? Was geschieht mit den transportierten Wissensgütern in den Städten, die durch (Daten-)Autobahnen miteinander verbunden sind.

Die generelle Antwort lautet: Sie dienen dem Erschließen, Aufbereiten und Vermitteln von weiterem Wissen in den Städten. Wer einen Anschluß hat, wird Nutznießer der transportierten Wissensgüter.

Der potentielle Nutzer muß sein Wissen ordnen und speichern. Außerdem muß er die Prozesse der informationalen Wertschöpfung gestalten, neues Wissen vermitteln und dabei die Begegnung zwischen Beteiligten organisieren.

Stätten der Begegnung Das Erscheinungsbild und die Erlebniswelt einer Stadt lassen sich im übertragenen Sinne nutzen, das Informationsgeschehen am Ort selbst zu veranschaulichen und zu organisieren. Die Vision ist, Städte des Wissens als Stätten der Begegnung einzurichten. Das Vorbild für die Wissensstadt ist die historisch gewachsene Stadt.

Sie repräsentiert in ihrer Anlage und Gestaltung auch die Intentionen und Ansprüche ihrer Erbauer. Ihr Erscheinungsbild demonstriert Herrschaft und Repräsentation, ist Ausdruck von Kultur und sozialen Milieus, vermittelt urbanes Leben und Stimmungen der Geschäftigkeit und des Müiggangs.

Jede Stadt für sich ist bereits eine Wissensstadt. Spezielle Einrichtungen wie Bibliotheken, Museen, Ausstellungen und Veranstaltungen bieten weitergehende Einblicke. Themenparks offerieren Informationen über komplexe Sachverhalte und Wissenszusammenhänge in anschaulicher Form. Ein Rundgang durch eine Stadt und ihre baulichen Ensembles läßt sich als Animation im Computer simulieren und mit zusätzlichen Informationsmöglichkeiten durch Hyper-Systeme versehen.

Die gewohnte Ausstattung der Büros mit Schreibtischen und Schränken wird für die Ordnung und Verwaltung von Wissensbeständen genutzt. Das System ist über Zimmer und Gebäude, Straen und Plätzen beliebig erweiterbar. Mit dem Angebot eines Gebäudetyps wie beispielsweise einem Rathaus, wird der Benutzer automatisch einen entsprechenden Wissensbestand identifizieren. Beschilderungen in der Analogie zur Stadt lassen sich für die Wissensnavigation nutzen.

Die Wissensvermittlung durch Datenbanken und Hyper-Systeme wird ausgebaut. Das Angebot an elektronisch betriebenen Netzwerken, mit denen sich Informationen im weltweiten Verbund (World Wide Web) zu vielen Wissensgebieten erschlieen lassen, nimmt zu.

Vernetzung des Wissens Das Charakteristikum dieser Entwicklung ist nicht in erster Linie die technische Vernetzung, obwohl sie noch die Diskussion dominiert, sondern die Vernetzung des Wissens.

Der schon angelaufene evolutionäre Prozeß "bottom up" bleibt jedoch mit einer Reihe von Problemen konfrontiert: Informationsflut und Unüberschaubarkeit der Wissensbestände sowie Orientierungsschwierigkeiten bei der Wissensnavigation. Die kontextuelle Vernetzung des Wissens muß entscheidend verbessert werden.In dem sich entfaltenden evolutionären Prozeß ist ein Potential für einen weiteren qualitativen Sprung angelegt, dessen Ergebnis und Wirkung das Leitbild "Städte des WIssens als Stätten der Begegnung" charakterisiert: Den Menschen in verschiedenen Verantwortungen und Rollen soll im Rahmen einer Wissensstadt die Gelegenheit zur persönlichen Begegnung geboten sein, um gemeinsam an Problemlösungen als Beteiligte und Betroffene arbeiten zu können.

Das Erscheinungsbild und die Erlebniswelt einer Stadt als Wissensstadt sollen komplexe Sachverhalte und Wirkungen - auch immaterieller Art - veranschaulichen. Es wird Kontextwissen zur Orientierung und für die Ordnung von Wissensbeständen gebraucht.

Eine solche Stadt kann als Miniatur, einem Disney-Land vergleichbar, und in Erweiterung auch als Computersimulation eingerichtet sein. Es ist naheliegend, da Kommunen und große Organisationen die Schirmherrschaft für die Einrichtung und den Betrieb solcher Wissensstädte übernehmen, die sich zu allen großen und komplexen Aufgabenstellungen anlegen lassen. So kann das Netzwerk der Wissensstädte entstehen, in dem "Zukunft erfinden" abläuft.

Wissensstädte konkurrieren Im eingespielten Zustand repräsentiert das Netzwerk der Wissensstädte die informationale Infrastruktur. Einzelne Wissensstädte konkurrieren um die Gunst der Besucher. Sie unterhalten aber auch Beziehungen untereinander und betreiben einen Handel mit Wissensgütern in Form von Halb- und Fertigfabrikaten.

Um das Jahr 2015 wird es kein exotisch anmutendes Vorhaben sein, eine Wissensstadt aufzusuchen, um sich dort mit Gleichgesinnten zur Lösung oder Entwicklung einer komplexen Problem- und Aufgabenstellung zu treffen.

Ergänzend zu den großen thematischen Wissensstädten des Problemlösungsgeschäfts gibt es spezialisierte Wissensstädte, die sich auf einzelne Themen und Methoden, Forschungen und technische Lösungen spezialisiert haben.

Außerdem finden sich in den Kommunen Begegnungsorte, die an das Netzwerk der Wissensstädte angeschlossen sind - ebenso Kaufhäuser und Geschäfte. Last not least: Jeder kann über im Hause installierte, kleinere Informationsanlagen direkt am Netzwerk der Wissensstädte teilnehmen.

Am Aufbau und Ausbau dieser Netzwerke haben innovative Kräfte aus drei Bereichen zusammengewirkt: Die Unternehmen mit der Interessenlage am Problemlösungsgeschäft, die Kommunen mit der Aufgabe, die Stadtentwicklung der Zukunft zu gestalten, und die Bürger mit dem Ziel, Einfluß zu gewinnen und qualifiziert an der eigenen Zukunftsgestaltung mitzuwirken.

Es ist auch im Interesse der Unternehmen, im Fokus der Kommune die Möglichkeiten für Problemlösungsgeschäfte auszuloten. Stadtsanierung und Stadtentwicklung werden im Rahmen der Versöhnung von "Ökonomie und Ökologie" die Geschäftsfelder der Zukunft mageblich prägen.

Die Bürger haben sich auf die verantwortungsvolle Mitwirkung in einer Problemlösungsgesellschaft vorzubereiten.

Besondere Anlässe erweisen sich oft als nützlich, langfristig notwendige Anstrengungen termingerecht zu konkretisieren und zum Nutzen für die Beteiligten in Zielprojekten zu fokussieren.

EXPO 2000 Ein ganz besonderes Motiv ist dabei die Weltausstellung im Jahr 2000 in Hannover. Die EXPO 2000 bietet die Chance, die Leistungsbereitschaft nicht nur der Wirtschaft, sondern der ganzen Gesellschaft zur aktiven Zukunftsgestaltung für die globale Gemeinschaft zu demonstrieren.

Denkbar wäre, den geplanten Themenpark in Form der Städte des Wissens als Stätten der Begegnung zu gestalten. Die großen Themenstellungen sind bekannt. Zu jedem Themenfeld engagiert sich eine europäische Kommune und übernimmt zusätzlich eine Art Schirmherrschaft. Zwei bis drei große Unternehmen, durchaus nicht aus der gleichen Branche, denen sich weitere interessierte Firmen anschliessen können, widmen sich den Aufgaben der thematischen Gestaltung, und zwar in enger Kooperation mit der Wissenschaft. Bürger und Institutionen wirken in Netzwerken bei den einzelnen Themenstellungen mit.

Aus allen drei Gruppierungen betreuen Stadtführer die EXPO-Besucher, indem sie in die Nutzungsmöglichkeiten der Informationsangebote einweisen. Wissensbestände werden einen organisierten Handel zwischen den Wissensstädten ü ber die EXPO hinaus schon vorher bewirken und danach ausgetauscht. Auf diese Weise läßt sich eine europäische Initiative starten, aus der das Netzwerk der Wissensstädte hervorgeht.

Beitrag in: 20 Jahre Computerwoche; gestern, heute, morgen. Sonderausgabe zum zwanzigjährigen Bestehen, November 1994



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